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Idoru

Idoru

Titel: Idoru Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Steinkalender wirbelten zornig in ihren Augenlöchern. »Wir warten. Während er seinem Schicksal entgegengeht. Wir warten. Wenn meine Girls und ich das täten, würden uns die Rats von den Straßen fegen.«
    Zona war die Anführerin einer messerbewehrten chilanga -
    Mädchenbande, wie sie behauptete. Vielleicht nicht gerade der heißesten in Mexico City, aber einer, die Dinge wie Revier und Tribut ziemlich ernst nahm. Chia wußte nicht recht, ob sie ihr das glaubte, aber bei den Treffen sorgte es für eine interessante Rotzigkeit.
    -18-
    »Wirklich?« Kelsey richtete ihr Nymphen-Ich mit elfenhafter Würde zu voller Größe auf und klapperte ungläubig mit Bambiwimpern wie aus einem Manga-Comic. »Wenn das so ist, Zona Rosa, warum gehst du dann nicht rüber nach Tokio und findest raus, was wirklich los ist? Hat Rez denn gesagt, daß er sie heiraten würde, oder was? Und wenn du schon dabei bist, finde raus, ob sie existiert oder nicht, okay?«
    Die Kalender stoppten abrupt.
    Die blauen Hände verschwanden.
    Der Schädel schien in unendliche Ferne zurückzuweichen, dabei jedoch völlig scharf zu bleiben, klar in jedem strukturellen Detail.
    Alter Trick, dachte Chia. Sie weicht aus.
    »Du weißt, daß das nicht geht«, sagte Zona. »Ich hab hier meine Pflichten. Maria Conchita, die Kriegsherrin der Rats, hat behauptet, daß …«
    »Als ob uns das interessieren würde, was?« Kelsey schoß senkrecht in die Höhe, ihr Nymphen-Ich ein heller, verschwommener Fleck vor dem aufsteigenden grünen Gewirr, bis sie unmittelbar unter dem Blätterdach schwebte. Ein Sonnenstrahl schmeichelte einem unmöglichen
    Wangenknochen. »Zona Rosa hat Scheiße im Hirn!« schrie sie überhaupt nicht nymphenhaft.
    »Streitet euch nicht«, sagte Chia. »Das hier ist wichtig.
    Bitte.«
    Kelsey kam sofort runter. »Dann gehst du«, sagte sie.
    »Ich?«
    »Du«, sagte Kelsey.
    »Ich kann nicht«, sagte Chia. »Nach Tokio? Wie denn?«
    »Mit dem Flugzeug.«
    »Wir sind nicht so reich wie ihr, Kelsey.«
    -19-
    »Du hast einen Paß. Das wissen wir. Deine Mutter mußte dir einen besorgen, als sie das mit dem Sorgerecht geregelt hat.
    Und wir wissen, daß du, um es taktvoll zu formulieren, ›gerade die Schule wechselst‹, nicht wahr?«
    »Ja …«
    »Wo liegt dann das Problem?«
    »Dein Vater ist ein großer Steueranwalt!«
    »Ich weiß«, sagte Kelsey. »Und er fliegt in der ganzen Welt rum und scheffelt Kohle. Aber weißt du, was er noch scheffelt, Chia?«
    »Was?«
    »Vielfliegerpunkte. Massenhaft Vielfliegerpunkte. Bei der Air Magellan.«
    »Interessant«, sagte der Aztekenschädel. »Tokio«, sagte die fiese Nymphe. Scheiße, dachte Chia.
     
    Die Wand gegenüber von Chias Bett war mit einer knapp zwei mal zwei Meter großen Laser-Vergrößerung des Covers von Lo Rez Skyline geschmückt, dem ersten Album der Band. Es war nicht das Cover, das man bekam, wenn man es heute kaufte, sondern das Original, jenes Gruppenfoto, das sie für die entscheidende erste Veröffentlichung auf dem Indie-Label Dog Soup gemacht hatten. Sie hatte die Datei in der Woche, in der sie dem Club beigetreten war, im Site – dem virtuellen Treffpunkt des Clubs – abgezockt und einen Laden in der Nähe des Marktes aufgetan, der sie so groß ausdrucken konnte. Es war nach wie vor ihr Lieblingsposter, und nicht bloß deshalb, wie ihre Mutter zu häufig andeutete, weil sie alle so jung aussahen. Ihrer Mutter gefiel es nicht, daß die Mitglieder von Lo/Rez fast so alt waren wie sie selbst. Warum stand Chia nicht auf Musik von Leuten ihres Alters?
    - Von wem denn bitte, Mutter?
    -20-
    - Diesen Chrome Koran, zum Beispiel.
    - Würg.
    Chia hegte den Verdacht, daß die Zeitwahrnehmung ihrer Mutter sich radikal und auf geheimnisvolle Weise von der ihren unterschied. Nicht nur, weil ein Monat für Chias Mutter keine sehr lange Zeit war, sondern auch, weil das ›Jetzt‹ ihrer Mutter etwas derart Enges und Buchstäbliches war. Von den Nachrichten regiert, wie Chia glaubte. Vom Kabel genährt.
    Eine Gegenwart, abgeschliffen auf den exakten Augenblick eines Verkehrsberichts aus dem Helikopter.
    Chias ›Jetzt‹ war digital, auf unangestrengte Weise elastisch und dank globaler Systeme, mit deren Funktionsweise sie sich nie hatte beschäftigen müssen, jederzeit abrufbar.
    Lo Rez Skyline war eine Woche (na ja, sechs Tage) vor Chias Geburt veröffentlicht worden, wenn man es so nennen konnte.
    Sie schätzte, daß bis zu dem freudigen Ereignis noch keine Exemplare des Albums nach Seattle

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