Im Antlitz des Herrn
schweigend zuhört. Jetzt meldete er sich schüchtern zu Wort.
«Sie erwähnten gerade, dass sich die Evangelisten auf die Lehrentheologie des Paulus beziehen. Das verstehe ich nicht, die Theologie müsste doch aus den Beschreibungen des Lebens Jesu entwickelt werden und nicht umgekehrt.»
Engel war überrascht. Zum einen, weil van Damme aufmerksam zugehört und zum anderen, weil er die Zusammenhänge so schnell begriffen hatte.
«Sie legen den Finger in eine klaffende Wunde der gesamten christlichen Theologie, Eric. Was wir als Christentum bezeichnen, müsste treffender Paulustum heißen, denn von den ursprünglichen Lehren Jesu blieb nicht mehr viel übrig. Im Grunde genommen ist der größte Teil des neuen Testaments nichts anderes als die ausführliche Darstellung der Vorstellungen des Paulus. Die Synoptiker Markus, Matthäus und Lukas, die Apostelgeschichte und natürlich die Paulusbriefe, alles dient dem Zweck, die paulinische Sicht der Dinge darzustellen.»
«Und was bitteschön ist diese Sichtweise?»
Theresia Stone schien ungeduldig zu sein.
«Paulus sah in Christus den Mensch gewordenen Sohn Gottes, der seit Anbeginn der Zeiten war. Er starb am Kreuz für die Sünden der Welt, stand von den Toten auf und sitzt nun zur Rechten Gottes.»
«Aber das ist doch das christliche Glaubensbekenntnis», fuhr Hawley dazwischen.
«So ist es Patrick, nur dass die Quelle, die ohne Zweifel dem historischen Jesus am nächsten kommt, diesen Jesus als Sohn Gottes, wie ihn Paulus beschreibt, nicht kennt.»
Engel machte eine Pause, um jemandem in der Runde die Frage zu ermöglichen, was diese Quelle sei. Alle sahen ihn aber nur fragend an, also fuhr er fort:
«Wahrscheinlich wissen die wenigsten von Ihnen, dass es im neuen Testament zwei Briefe von Brüdern Jesu gibt, einen von Judas und den wesentlich bedeutenderen von Jakobus. Dieser Jakobus übernahm nach dem Tod Jesu die Rolle des Anführers der Jerusalemer Gemeinde. Keiner der Autoren des Neuen Testaments war Jesus näher als er, und niemand dürfte präziser die Glaubensvorstellungen der Urgemeinde gekannt haben. Vereinfacht gesagt handelte es sich bei dieser Gruppe um eine apokalyptische jüdische Sekte. Trotz dieser Führerschaft des Jakobus spielt sein Brief in der Kirche heute kaum eine Rolle, aus ihm wird nicht ein einziges Mal während des Gottesdienstes zitiert. Sie fragen sich sicher, warum das so ist.»
Engel nahm das Weinglas in die Hand und dehnte das Ritual des Riechens und Schmeckens so lange wie möglich aus und leckte sich noch genüsslich die Lippen, eher er weitersprach.
«Die Erklärung ist denkbar einfach: Jakobus kennt diesen von Paulus beschriebenen, Mensch gewordenen Gottessohn nicht. Er zeichnet ein anderes Bild von Jesus. Der Jakobusbrief war deshalb in hohem Maße problematisch. Zwar traute man sich nicht, den Text des Bruders und engen Vertrauten ganz aus den Schriften zu verbannen, aber man stellte ihn dermaßen an den Rand, dass kaum ein einfacher Christ ihn kennt.»
Theresia Stone konnte nicht mehr ruhig auf ihrem Platz sitzen. Ruckartig beugte sie den Oberkörper nach vorne, stützte die Hände auf die Knie und sah Engel mit starrem Blick an.
«Sie behaupten allen Ernstes, dass alles, an was die Christen seit zweitausend Jahren glauben, mit dem realen Jesus nichts zu tun, sondern das Hirngespinst eines einzigen Mannes ist?»
Engel hatte solche Reaktionen oft erlebt. Theresia war sicher keine fundamentale Christin, die jeden Satz des Neuen Testaments für bare Münze nahm. Doch die Grundannahme, das Christentum fuße auf den Lehren Jesu, schien ihr unumstößlich.
«Hirngespinst haben Sie gesagt, Theresia. Aber dass im Christentum letztendlich alles auf Paulus zurückgeht, ist eine unbestreitbare Tatsache.»
Engel überlegte, ob er schon an diesem ersten Abend die Illusionen über die Authentizität der christlichen Lehre vollständig zerstören sollte. Er schaute in die Runde und sah gespannte Minen. Alle hingen an seinen Lippen. Nun denn, dachte er.
«Was sagen Ihnen die folgenden Worte: ‹Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis.› Später nimmt er den Kelch und sagt: ‹Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.›»
Engel sah Stone fragend an, die sofort antwortete:
«Ähnliche Worte benutzt der
Weitere Kostenlose Bücher