Im Antlitz des Herrn
Latour erneut. Engel nahm sich vor, bald mit ihm über seine These zu sprechen.
Henderson hob beschwörend die Hand:
«Meine Damen, meine Herren, dies ist nicht der Moment zu debattieren. Ich weiß, dass diese Ausführungen eine Hypothese sind. Waren nicht immer Mutmaßungen der Ausgangspunkt aller bahnbrechenden Entdeckungen?»
Niemand widersprach, und Henderson trat auf die Ossuarien zu. «Nun kommen Sie schon. Nehmen Sie unsere Schätze in Augenschein.»
Fast ehrfürchtig trat die Gruppe an die kleinen Truhen heran. Latour fasste sich als Erster und begutachtete die Inschrift am Jesus-Ossuarium. Er hatte bereits Dutzende dieser Gebeinkästen untersucht, und sie flößten ihm weit weniger Respekt ein als den anderen. Bald stand die ganze Gruppe um dieses Objekt herum. Henderson beobachtete sie amüsiert. Nach einiger Zeit richtete sich Latour auf.
«Auf den ersten Blick sieht es nicht wie eine Fälschung aus. Aber Genaueres lässt sich erst nach einer ausführlichen Untersuchung sagen.»
Stone trat an den Kasten heran.
«Darf ich das Skelett sehen?»
Henderson legte seine Hand auf ihren Unterarm. «Selbstverständlich, meine Liebe. Allerdings befindet es sich nicht mehr in diesem Gebeinkasten.»
Er drehte sich zur Tür herum und rief:
«Mark, bring ihn herein.»
Sekunden später erschien ein stämmiger Mann in der Tür, der eine mit einem weißen Tuch bedeckte Truhe in die Halle schob. Sie stand auf einer Art Katafalk, den er unmittelbar vor Stone abstellte. Henderson trat heran und zog mit einem Ruck das Tuch herunter. Zum Vorschein kam ein mit Goldleisten eingefasster Glassarg, in dem die Gebeine ordentlich sortiert lagen. Engel schien das Skelett relativ vollständig, allerdings verfügte er über zu geringe anatomische Kenntnisse, um das mit Sicherheit sagen zu können.
Henderson drehte sich zur Gruppe um und breitete in einer Art Priestergeste, die Engel schon einmal an ihm aufgefallen war, die Arme aus. Mit lauter und feierlicher Stimme rief er:
«Der König der Juden!»
***
Wolfram Engel nahm das bauchige Weinglas von dem kleinen viktorianischen Tischchen neben seinem wuchtigen Ledersessel und atmete den wunderbaren Duft des Burgunders ein. Mit dem Ambiente der Bibliothek hatte Henderson ihn heute bereits zum x-ten Mal überrascht. Er strahlte die Gediegenheit eines alten, englischen Clubs aus, in dem man sich bei einer Flasche Rotwein oder einem Glas feinsten Single-Malt-Whiskys und einer edlen Zigarre nach einem anstrengenden Arbeitstag entspannen konnte. Henderson tat alles, um dem Team das Arbeiten so angenehm wie möglich zu gestalten. Nach ihrem Aufenthalt im «Mausoleum» - dieser Name für die Halle mit den Ossuarien hatte sich sofort durchgesetzt – wurden sie in die Docklands zurückgefahren. Sarah Goldberg führte sie anschließend durch die technische Abteilung. Die Ausrüstung war auf dem neuesten Stand, ihnen stand ein komplettes Labor zur Untersuchung jeder nur denkbaren Probe zur Verfügung, desgleichen eine radiologische Abteilung einschließlich eines Computertomographen, sowie ein Seziersaal, der jeder Pathologie auf der Welt Ehre gemacht hätte. Engel schätzte, dass etwa vierzig Menschen in unterschiedlichen Positionen darauf warteten, für sie tätig zu werden.
Jedes Mitglied des Teams bekam einen eigenen, großzügig möblierten Arbeitsraum zugewiesen. Auf den riesigen Glasschreibtischen standen moderne Hochleistungscomputer. Diese perfekten Arbeitsbedingungen hatte er erwarte. Überrascht war er, als sie eine Etage über den Labor- und Arbeitsräumen aus dem Fahrstuhl stiegen. Sarah öffnete eine Glastür.
«Und hier ist unser Hotel. Ich hoffe, dass es Ihnen gefällt.»
Sie betraten einen langen Flur. An den in Gelb- und hellen Organgetönen gestrichenen Wänden hingen farbenfrohe, abstrakte Gemälde. Der Boden war mit einem blauen Teppich belegt, in dem man geradezu versank. In mehreren Bodenvasen standen kunstvoll arrangierte Blumen.
Sarah zeigte auf die erste Tür links.
«Hier ist Ihre Suite, Wolfram. Alle Türen sind mit Namensschildern versehen, Sie werden sich leicht zurechtfinden. Öffnen Sie die Tür mit der Identifikationskarte, die Sie vorhin erhalten haben. Sollten Sie sie vergessen, können Sie auch Ihren Code über das Tastenfeld eingeben. Ich denke, Sie möchten sich jetzt frisch machen. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Stunde im Restaurant, eine Etage höher.»
Engel öffnete die mit seinem Namen versehene Tür und trat in
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