Im Antlitz des Herrn
kompliziertesten Bereiche an, mit dem wir es bei der Erforschung der historischen Person Jesu zu tun haben. Ich denke, es ist für Sie alle von Interesse, und ich hole ein bisschen weiter aus.»
Engel blickte in die Runde und sah zustimmende Gesichter. Anscheinend hatte sein Vortrag sie bisher nicht gelangweilt.
«Wenn wir uns mit der Person dieses Jesus und mit der Geschichte der urchristlichen Gemeinde beschäftigen, kommen wir nicht umhin, die Schriften des neuen Testaments als Quellen heranzuziehen.»
«Gibt es denn überhaupt andere Quellen über Jesus als die Evangelien?», fragte Theresia Stone.
«Zunächst einmal besteht das neue Testament, wie Sie wahrscheinlich wissen, nicht nur aus den vier Evangelien, sondern aus vielen weiteren Texten wie der Apostelgeschichte, den Apostelbriefen und der Offenbarung des Johannes. Vor allem die Apostelbriefe sind für bestimmte Aspekte der Entwicklung der christlichen Traditionen von Bedeutung. Für die Rekonstruktion der historischen Ereignisse rund um den Tod Jesu, und das soll hier unser Thema sein, bilden die vier Evangelien aber die wichtigste Quelle.»
Patrick Hawley hob die Hand wie ein Schüler und wartete darauf, von Engel mit einem Kopfnicken zum Sprechen aufgefordert zu werden.
«Also haben diese vier Schriftsteller Jesus gekannt?»
«Nein, mit Sicherheit nicht.»
Engel nahm einen Schluck Wein.
«Das Markusevangelium ist das älteste, aber es entstand auch erst nach dem jüdischen Aufstand und der Zerstörung des Tempels im Jahre siebzig. Den Autoren, die wir als Matthäus und Lukas kennen, lag Markus oder zumindest eine Vorform seines Textes bereits vor. Sie übernahmen von ihm die Komposition und viele Textteile, die sie gemäß ihren theologischen Absichten veränderten. Diese drei Synoptiker, wie man sie gemeinhin nennt, benutzten außerdem eine sogenannte Logienquelle, eine Sammlung von Reden und Sprüchen Jesu, die von seinen Anhängern zunächst mündlich weitergegeben worden waren und um das Jahr siebzig schriftlich festgehalten wurden. Leider ist dieser Text verloren gegangen, allerdings konnten Sprachwissenschaftler und Historiker ihn weitgehend rekonstruieren.
Das Markusevangelium ist also das interessante, denn der Passionsbericht stammt aus einer Überlieferung der Jerusalemer Urgemeinde. Der Schwerpunkt liegt auf der Beschreibung der letzten Tage Jesu. Im Laufe der Zeit wurden dieser Erzählung weitere Ereignisse vorangestellt, die zum großen Teil die theologischen Überlegungen von Paulus stützen sollen. Auf jeden Fall ist die Passionsgeschichte derjenige Teil der Überlieferung des neuen Testaments, der am gesichertsten gelten kann, denn er ist bei allen vier Evangelienredakteuren nahezu identisch.
Johannes ist erst zwischen den Jahren hundert und hundertdreißig entstanden und damit das jüngste Evangelium. Er benutzte andere Quellen als die Synoptiker.»
Peter Deary unterbrach Engels Redefluss.
«Tut mir leid, Wolfram, aber so ganz bin ich mit Ihren Ausführungen noch nicht zufrieden. Gibt es denn keinerlei andere, unabhängige Quellen, die bestätigen, dass es diesen Jesus überhaupt gegeben hat?»
«Doch, es gibt sie, aber sie sind spärlich und manche von ihnen eine fromme Fälschung. Die Kirchenväter hatten später ein erhebliches Problem damit, dass der Gründer einer so mächtigen Religion nicht von den wichtigsten, zeitgenössischen Historikern erwähnt wurde. So schob man zum Beispiel dem jüdischen Historiker Flavius Josephus eine ausführliche Beschreibung Jesu in den Antiquitates Judaicae unter, das sogenannte Testimonium Flavianum. Dabei gibt es in dem gleichen Buch eine mit ziemlicher Sicherheit echte Erwähnung Jesu, dummerweise recht beiläufig. Der Autor beschreibt die Hinrichtung des Jakobus und bezeichnet ihn als Bruder Jesu, der Christus genannt wird. Auch in den Annalen des Tacitus aus dem Jahr 117 werden die ‹Chrestianer› genannt, denen Nero die Schuld am Brand Roms in die Schuhe geschoben hat. Tacitus erwähnt hier auch die Kreuzigung Jesu. Es ist allerdings durchaus möglich, dass er sich bereits auf christliche Quellen stützt.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Quellen, allesamt aber nur kurze Notizen. Sie sehen also, dass wir nicht umhin kommen, das neue Testament als Quelle heranzuziehen. Allerdings müssen wir es historisch-kritisch betrachten.»
Engel machte eine Pause, um Zwischenfragen zu ermöglichen. Eric van Damme, der Skulpteur bei Madame Taussauds, hatte bisher allen Ausführungen
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