Im Auge des Orkans
fragte sie mit einer
Stimme, die rauher als gewöhnlich klang: »Wie wurde der alte Mann getötet?« Ich
beschloß, den alten Trick anzuwenden und eine falsche Auskunft zu geben, in der
Hoffnung, der Mörder würde sich verraten, weil er wußte, daß dies nicht
stimmte. »Er wurde erhängt. Es war nicht schwierig. Er war sehr schwach.«
Andrew neben mir gab einen erstickten
Ton von sich. Ich kniff Andrew in den Arm, ließ aber meinen Blick nicht von den
anderen. Sie zeigten verschiedene Grade von Angst, aber keinen Unglauben.
Patsy räusperte sich. »Wer...«
»Ich weiß es nicht.«
Sie sah sich um und fuhr sich mit der
Hand an den Hals. Einen Augenblick lang fürchtete ich, sie würde schreien, aber
sie sagte nur mit leiser Stimme: »Es ist einer von uns?«
Ich konnte ihr darauf keine Antwort
geben.
»Ach, Shari, es ist einer von uns,
nicht wahr? Die ganze Zeit hast du davon geredet, daß jemand von außerhalb auf
die Insel gekommen ist und all die schrecklichen Dinge getan hat. Dabei wußtest
du immer, daß es einer von uns war. Du hast es uns verschwiegen, und die ganze
Zeit war der Mörder hier — «
Evans packte sie und preßte ihr die
Hand auf den Mund. Kelley und Jessamyn begannen wieder zu weinen. Ich gab Andrew
einen kleinen Stoß. »Geh zu deinen Schwestern! Evans muß sich jetzt um deine
Mutter kümmern.«
«Aber ich muß — «
»Geh schon!«
Er ging zu ihnen, setzte sich zwischen
die beiden auf den Boden und umarmte sie. Die Mädchen weinten noch mehr.
Neal rollte die Augen und legte die
Hände auf die Ohren. »Um Gottes willen, Evans, sie sollen den Mund halten.
Beruhige sie, sie machen mich verrückt!«
Stephanie richtete sich auf und trat
einen Schritt auf Neal zu. »Halt du lieber den Mund. Es sind kleine Kinder.
Aber du solltest eigentlich erwachsen sein.«
Er drehte sich ihr zu und schlug ihr
mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie zuckte zurück und fuhr sich mit den
Fingern an die Wange.
Neals Stimme war so hoch und heiser wie
das Pfeifen einer Dampfpfeife. »Ich bin erwachsen, erzähl mir nicht, daß ich
nicht erwachsen wäre!«
»Du benimmst dich wie ein Dreijähriger.
Was ist überhaupt los mit dir, bist du verrückt geworden?«
»Sag so was nicht zu mir! Sag nicht,
daß ich verrückt wäre!«
»Ach, laß mich in Ruhe!« Stephanie ging
auf die Tür zu. Ich vertrat ihr den Weg. Mit zusammengezogenen Brauen sah sie
auf mich hinunter. »Sie werden mir jetzt nicht erzählen, was ich zu tun habe!«
sagte sie.
»Bitte, Steff«, mischte sich Denny ein.
»Sie ist nur um deine Sicherheit besorgt.«
Sie zuckte die Achseln und ging zu
einem Sessel am anderen Ende des Raumes.
»Bitte, setz dich, Neal«, sagte Evans.
»Ich versuche, die Kinder zu beruhigen. Sie sind schon friedlicher, siehst du?«
Ironischerweise hatte Neals
hysterischer Ausbruch die Mädchen zum Schweigen gebracht. Neal schien sie zu
faszinieren. Sie starrten ihn mit aufgerissenen Mündern sprachlos an.
Neal merkte, wie sie ihn anblickten,
und rief wütend: »Mach, daß sie damit aufhören!«
»Sie tun doch gar nichts«, entgegnete
Evans. »Du übertreibst immer gleich so — «
»Tu nicht so herablassend! Schon in der
Klapsmühle warst du so zu mir, immer...«
»Neal, bitte!« Ein warnender Unterton
schwang in Evans’ Worten mit.
»Sogar in der Klapsmühle hast du dich
aufgespielt: ›Neal, ich bin nicht so schlimm dran wie du, ich bin nur hier, um
mich zu erholen. Aber du bist verrückt.‹ Ja, sogar damals — «
Evans stand auf. »Beruhige dich. Du
weißt, was passiert — «
»Was für eine Klapsmühle?«, fragte
Patsy da.
Beide wandten den Kopf nach ihr um. Über
Neals Gesicht flog ein triumphierendes Lächeln. »Natürlich! Evans hat dir
nichts davon erzählt.«
»Von was?«
»Von der Klapsmühle. Man hat mich nach
dem Tod meiner Eltern dort hingeschickt — ins Heim für geistig leicht
Behinderte, wie wir es nannten. Und Evans leistete mir Gesellschaft — nachdem
er seine Frau umgebracht hatte.«
»Seine Frau?« Patsy blickte von Neal zu
Evans. Evans streckte hilflos die Hände aus.
Neals Lächeln wurde fast höhnisch.
»Ach, du Ärmste, er hat dir ja überhaupt nichts erzählt. Er hatte eine hübsche
Frau, Emily. Er heiratete sie nach seinem ersten Jahr in Yale. Und fünf Monate
später tötete er sie — «
»Du gemeiner Kerl — «, sagte Evans
drohend.
»Nein!« Patsys Stimme war so kalt wie
der Wind, der am Haus rüttelte. »Ich will das nicht hören.«
Evans ließ die Hände sinken, mit
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