Im Auge des Orkans
Vergnügen,
was?« sagte ich. Kelley wimmerte, Jessamyn schluchzte laut auf.
»Wo ist Mom und Evans?« fragte Andrew.
»Unten wahrscheinlich. Sie haben — «
»Probleme«, ergänzte Andrew für mich.
»Mom hat immer mit irgend jemandem Probleme.«
»Andrew — «
»Ich hasse sie. Und ich hasse Evans.
Wenn der Sturm vorbei ist, ziehen Kelley und Jessamyn und ich zu dir.«
Mein Gott, dachte ich, waren die Kinder
ihrer Mutter tatsächlich so entfremdet? »Vielleicht eine Zeitlang, warum
nicht«, sagte ich tröstend. »Könnt ihr noch einen Augenblick unter der Decke
bleiben?«
Andrew versuchte, ein tapferes Gesicht
zu machen, aber seine Augen füllten sich mit Tränen. »Geht jetzt nicht weg!«
Ich warf einen Blick über die Schulter
auf Sam. Er stand ein paar Schritte entfernt und musterte Neal wachsam. Neal
saß noch auf demselben Stuhl wie vorhin, völlig erstarrt.
»Tante Sharon?«
»Ich geh nicht weg.« Daß er mich wieder
»Tante« genannt hatte, bewies, wie verstört er war. »Ich muß nur für ein paar
Minuten in die Anrichte gehen. Sam ist ja da, okay?«
Andrew nickte zögernd.
Ich stand auf und sagte zu Sam: »Ich
bin gleich wieder da, dann können Sie hinaufgehen und helfen, und ich passe für
Sie auf Neal auf.«
Sam nickte, setzte sich neben Andrew
und zerzauste ihm das Haar. Trotz seiner Angst strich Andrew es sich wieder
glatt und warf Sam einen verächtlichen Blick zu, als wollte er sagen, daß Sam
nicht das geringste von Elfjährigen verstand. Sam zuckte entschuldigend mit den
Achseln.
Ich eilte in die Anrichte neben der
Küche. Ich nahm die letzte Taschenlampe, die noch in der Schublade lag, und
machte mich auf die Suche nach Messern. Ich fand einige in einem Gestell an der
Küchenwand: ein etwa zwanzig Zentimeter langes Fleischermesser, ein
mittellanges Schneidemesser und ein kleines Küchenmesser. Ich nahm sie alle mit
ins Wohnzimmer.
Sam und Andrew unterhielten sich über
Mr. Won. Andrew schilderte, wie er ihn gefunden und daß er die Zeichnungen
verloren hatte.
Ich war ziemlich sicher, daß Tin Choy
Wons Mörder zurückgekehrt war und sie mitgenommen hatte. Falls das zutraf, war
Andrew in einer schlimmen Lage, und das bedeutete, daß ich in seiner Nähe
bleiben mußte, bei ihm und seinen Schwestern. Sie waren die unschuldigen Opfer
in dieser ganzen Geschichte.
Ich war unendlich frustriert, weil es
mir nicht gelang, die Einzelheiten, die ich bereits wußte, zu einem erkennbaren
Muster zusammenzulegen. Ich spürte, daß ich dicht vor der Lösung war, aber ich
bekam sie nicht zu fassen...
Ich setzte mich auf die Decke und sagte
zu Sam: »Wenn Sie hinaufgehen wollen, nehme ich hier die Sache in die Hand.«
Von oben war Hämmern, Fluchen und Rufen zu hören. Vermutlich konnten sie jede
zusätzliche Hilfe brauchen.
Als Sam gegangen war, fragte ich meinen
Neffen. »Wieviel Angst hast du?«
»Verdammt viel, aber ich denke — «
»Ich auch.« Ich spähte unter die Decke.
»Kelley? Jessamyn?«
»Du darfst aber keine Angst haben«,
sagte Kelley. »Und verdammt darf Andrew auch nicht sagen.« Jessamyn kicherte.
Ich wollte schon etwas erwidern, dann
erkannte ich, daß sich zu viel Schrecken, den man auf eine Fünfjährige häufte,
in Absurdität verwandeln mußte. Vielleicht konnte ich das zu unserem Vorteil
ausnutzen.
»Jessamyn«, sagte ich, »hast du soviel
Angst wie die Ente vorhin auf der Zugbrücke, als sie dachte, Hilfssheriff Ma
würde sie verhaften, weil sie eine faule Tomate auf den Segler geworfen hatte?«
Das war eine der Geschichten gewesen, die sie vorhin den Kindern erzählt
hatten.
»Soviel Angst habe ich nicht.«
»Und du, Kelley?«
Sie war wie immer gründlich und
überlegte einen Moment. »Ich habe mehr Angst.«
»Aber eine neue Geschichte möchtest du
doch hören, oder?« Kurzes Schweigen. »Vielleicht«, sagte sie dann.
Andrew mischte sich ein. »Ich muß noch
die Zeichnungen machen, Sharon.«
»Später. Erst erzählen wir ihnen noch
eine Geschichte.« Und fügte leise hinzu: »Damit sie einschlafen.«
Er blickte durch das dunkle Zimmer um
uns und nickte verständnisvoll.
Und so begann ich eine weitere
Geschichte von Enten und Zugbrücken. Erzählte von dem Lunchpaket, das Mrs.
Agnes Duck immer für ihren Mann machte, von dem gemeinen Bootsbesitzer — der in
meinen Gedanken Neal glich — , dem guten Kerl im Ruderboot — Denny? — und den
unvermeidlichen verfaulten Tomaten. Als Kelley mich unterbrach und fragte,
warum Agnes Duck jeden Tag faules Gemüse
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