Im Auge des Orkans
kalten, dunklen Blick zuwarf, und ich fragte mich, was
nicht stimmte, aber vor den anderen wollte ich ihn nicht fragen. Früher oder
später mußte er auf die Toilette. Ich beschloß, ihn zur Rede zu stellen, wenn
er das Zimmer verlassen hatte.
Angela lag still auf dem Sofa. Sie
hatte weder etwas essen noch trinken wollen, sondern nur das Gesicht zur
Sofalehne gedreht. Denny hatte sich auf dem Boden ausgestreckt, die Hände über
dem Bauch gefaltet. Neben ihm saß Neal auf einem Hocker und las in einem Buch
aus der Bibliothek. Er blätterte selten um, so daß ich das Gefühl hatte, er sei
nicht ganz bei der Sache. Stephanie hockte beim Feuer, stocherte in den Flammen
und bewegte oft minutenlang keinen Muskel. Das Transistorradio neben ihr war
auf den Wettersender eingestellt, und die leise Stimme des Sprechers wirkte
seltsam ruhig im Gegensatz zu dem draußen tobenden Orkan.
Der Orkan, sagte der Sprecher, habe an
Heftigkeit bisher nicht nachgelassen. Die Nationalgarde sei mobilisiert und das
Delta zum Notstandsgebiet erklärt worden. Bei Isleton war ein Damm gebrochen,
viele Häuser standen unter Wasser. Die fortgespülte Brücke bei Rio Vista hatte
viele Autofahrer abgeschnitten, mindestens zwölf Wagen waren ins Wasser
geglitten oder geblasen worden. Die Gegend am Russian River war am meisten
betroffen, das Wasser war über die höchste, hundert Jahre alte Flutmarke
gestiegen. Katastrophenopfer —
Plötzlich setzte sich Angela auf und
schrie. Sie preßte die Hände an die Ohren, warf den Kopf vor und zurück und
schrie, wieder und wieder. Sams Augen wurden groß, er wollte zu ihr hinlaufen,
aber ich winkte ab. Patsy war dem Sofa am nächsten und schon bei ihr. Beide
kleinen Mädchen fingen an zu weinen. Andrews Augen glichen schwarzen Löchern.
Patsy legte die Arme um Angela und
bemühte sich, sie zu beruhigen, doch sie warf den Kopf nur noch stärker hin und
her. Sie schrie zusammenhangloses Zeug, doch was wir verstanden, sprach eine
deutliche Sprache.
»Sie sollen still sein...
Katastrophenopfer... mein Großvater ist tot... «
Schließlich war ihre Energie
verbraucht, und sie lehnte sich schluchzend an Patsy. Im Zimmer war es sehr
still. Sogar die kleinen Mädchen hatten aufgehört zu weinen.
Andrew sah mich an und fragte
rundheraus: »Mr. Won ist tatsächlich tot?«
Ich hatte es für günstig gehalten, daß
die Kinder, mit der neuen Situation im Haus so beschäftigt, nicht nach dem
alten Mann unten gefragt hatten. Jetzt dachte ich, daß es wohl besser gewesen
wäre, sie gleich einzuweihen. Ich überlegte, ob ich behaupten sollte, Angela
sei nicht ganz richtig im Kopf, aber ich wußte, daß zumindest Andrew mir das
nicht abkaufen würde. Und ich wußte auch, daß meine nächsten Worte über unsere
künftige gute oder schlechte Beziehung entschieden — und darüber, wie er selbst
mit dieser Krise fertig würde.
Ich sah zu Patsy hinüber, aber die
hatte alle Hände voll mit Angela zu tun. Evans war zu den kleinen Mädchen
gegangen und wirkte nicht, als ob er Stellung beziehen wollte.
»Mr. Won ist vor ein paar Stunden
gestorben«, sagte ich.
»Wie ist er gestorben?« fragte Andrew.
In dieser Beziehung mußte ich lügen.
Nur Sam und ich kannten den wahren Sachverhalt. »Er war alt und sehr krank. Wahrscheinlich
hat er sich auf dem Weg hierher eine Lungenentzündung geholt.«
Das Gesicht meines Neffen veränderte
sich. Es war, als ziehe sich seine Kopfhaut zurück, seine Züge traten schärfer
hervor. Seine Augen verengten sich, er schob das Kinn vor. »Unsinn!« sagte er.
»Was für ein großer Unsinn! Mr. Won ist ermordet worden.«
Die Hölle brach los. Kelley und
Jessamyn begannen zu schreien. Angela warf sich wieder hin und her und rief:
»Nein, nein, nein... « Die übrigen Erwachsenen stießen erstaunte Rufe
aus. Sam sprang auf und wollte zu Andrew gehen, aber ich war vorher bei ihm.
Ich packte seinen Arm, zog ihn hoch und schob ihn vor mir her aus dem Zimmer.
Erst in der Anrichte hielt ich an. Ich stellte ihn in eine Ecke und leuchtete
ihm mit meiner Taschenlampe ins Gesicht.
»Also«, begann ich, »warum hast du so
was gesagt?«
Vom Licht geblendet schloß er die
Augen. Seine Lippen verzogen sich feindselig. Am liebsten hätte ich ihn bei den
Schultern gepackt und geschüttelt. Statt dessen legte ich die Lampe auf ein Regal
und faltete die Hände so fest, daß mir die Finger schmerzten. »Warum hast du
das gesagt, Andrew?«
»Weil es wahr ist.«
»Du wußtest doch nicht einmal, daß
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