Im Auge des Orkans
Chef zu sprechen, ehe ich aus der Stadt verschwand.
All Souls, die Rechts-Kooperative, bei
der ich als Detektiv arbeite, ist in einem großen altmodischen Haus
untergebracht, in einer der steilen Seitenstraßen im Bernal-Heights-Viertel von
San Francisco. Die Mission Street mit ihren Kneipen und Discos und kleinen
Läden, die ständig geöffnet zu haben scheinen, ist nicht weit. Für eine
durchschnittliche Kanzlei wäre die Lage nicht besonders reizvoll gewesen, aber
uns paßt sie wie maßgemacht. Wir sind ein Überbleibsel der Bürgerrechtsbewegung
der sechziger und siebziger Jahre und sind dazu da, Leuten mit niedrigem oder
mittlerem Einkommen und dem Wunsch nach juristischer Unterstützung zu helfen.
Unsere gleitende Gebührenordnung zieht sowohl die Reichen wie die Armen an,
denn in den fünfzehn Jahren unseres Bestehens haben wir uns einen
außergewöhnlich guten Ruf erworben.
Auf meinem Schreibtisch lagen nur ein
paar Nachrichtenzettel, die ich nach ihrer Wichtigkeit, sofort und später,
sortierte. Die Mitteilung, daß Don angerufen hatte, schob ich zum Päckchen der später
zu erledigenden Dinge.
Zwei Anrufe mußte ich sofort
beantworten, von Klienten, denen ich meine Berichte gestern per Post geschickt
hatte. Ich wußte, daß sie sich Sorgen machten, so rief ich sie kurz an und
erzählte ihnen in groben Zügen, was ich herausgefunden hatte. Dann trödelte ich
noch ein paar Minuten herum, ehe ich zu Hank Zahns Büro ging. Er ist mein Chef.
Dort erwartete mich eine Überraschung.
Hank saß hinter seinem mit Akten bedeckten Schreibtisch und sah wie gewöhnlich
zerknittert aus, obwohl er einen gutsitzenden Anzug mit Weste trug. Er sah
einen Vertrag durch, zusammen mit Anne-Marie Altmann, unserer Steuerjuristin
und meiner besten Freundin bei All Souls. Sie stand hinter ihm, deutete auf
einen Absatz im Vertrag und lehnte sich dabei gegen seine Schulter. Ihre langes
blondes Haar streichelte seine Wange auf eine höchst ungeschäftliche Art, und
der Ausdruck auf Hanks Gesicht verriet mehr Vergnügen, als selbst er am
Sezieren eines Vertrags finden konnte.
Bei meinem Anblick richtete sich Anne-Marie
leicht errötend auf. Hank sah nur zu mir her und sagte: »Ach, du bist es.«
Ich bemühte mich, so zu tun, als fände
ich ihr vertrauliches Tête-à-tête nicht seltsam, und sagte: »Ein schönes
Gefühl, so willkommen zu sein.« Dann wandte ich mich zum Bücherregal, wo Hank
seine Sammlung von National Geographics aufbewahrt, und begann in ihr
herumzusuchen.
»Bist du hinter was Bestimmtem her?«
fragte er in amüsiertem Ton.
Das war ich tatsächlich. »Hat der Geographie mal über das Delta berichtet?« fragte ich.
»Ich glaube schon. So um 1976. Band
hundertfünfzig ungefähr.« Seine prompte Antwort erstaunte mich nicht. Hank
sammelt nicht nur Zeitungen, Illustrierte, Berichte und statistisches Material,
er verschlingt auch ihren Inhalt und verstaut das meiste in seinem
fotografischen Gedächtnis. Ich brauchte nicht lange, um die richtige Ausgabe zu
finden — November 1976. »Kann ich mir die ausleihen?«
»Selbstverständlich. Ich glaube, es ist
auch ein ganzes Buch übers Delta da, oben im Schrank im Gang, unterstes Fach rechts.«
»Danke. Ich werde nachsehen.« Als ich
mich umwandte, stellte ich fest, daß Anne-Marie hinter dem Schreibtisch
hervorgekommen war und sich in einen der Kundensessel gesetzt hatte. Ich setzte
mich in den anderen.
»Warum willst du was übers Delta wissen?«
fragte Hank.
»Ich werde das Wochenende dort
verbringen.« Ich erzählte kurz von Patsy und ihren Freunden und den Bootelplänen,
ohne die seltsamen Vorfälle zu erwähnen. »Ich werde Montag anrufen, und wenn
nichts Wichtiges vorliegt — könnte ich ein oder zwei Tage länger bleiben?«
»Dein Schreibtisch ist aufgeräumt?«
»Ja.«
»Dann nimm ein paar Tage frei.«
»Danke.«
Die Schwierigkeit mit Hank ist, daß er
nie weiß, wo die Grenze ist — jedenfalls, soweit es mich betrifft. Er
betrachtet mich als eine Kreuzung aus Angestellter, gutem Freund und kleiner
Schwester, und deshalb glaubt er, das Recht zu haben, sich in meine
Privatangelegenheiten zu mischen. »Wirklich, ich bin froh, daß du aus der Stadt
rauskommst«, sagte er. »Du brauchst einen Szenenwechsel. Du bist in letzter
Zeit schrecklich gereizt.«
Anne-Marie verkroch sich tiefer in
ihren Sessel und rollte die Augen.
»Was zum Teufel ist eigentlich mit dir
los«, fuhr Hank fort. »Probleme mit Don?« Er machte ein hoffnungsvolles
Gesicht, denn
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