0396 - Leonardos Zauberbuch
Giorgio Gambino keuchte unterdrückt. Wie eine quälende Last legte sich die Aura des Dämons über seine Seele. Er duckte sich leicht. Nacheinander verloschen die Kerzenflammen, bis es völlig dunkel geworden war. Stille breitete sich aus. Das Murmeln der Beschwörung war verstummt. Die Angehörigen der Sekte wagten kaum zu atmen. Auch Gambino hielt unwillkürlich den Atem an. Er spürte Entsetzen und Ekel und zugleich eine aufsteigende Faszination, die von der Kreatur ausging, die erschienen war.
Sie hatte den Platz des Opfers eingenommen, das in der gleichen Sekunde spurlos verschwunden war. Die Kreatur hockte jetzt auf dem Altarstein aus schwarzem Marmor. Eine bösartige Gestalt mit grell flammenden Augen, mit unheilvoll ausgebreiteten Schwingen und Händen, deren Finger in langen Krallen endeten. Der Körper des Dämons leuchtete aus sich heraus und schuf nach dem Erlöschen der Kerzen wieder eine bedrückende, dämmerige Helligkeit.
Was wollt ihr?
Jeder hörte die lautlose Stimme in seinem Kopf aufklingen, beherrschend und keinen Widerspruch duldend. Die Frage mußte beantwortet werden.
Warum habt ihr euch erdreistet, mich zu rufen? Wißt ihr nicht, wer ich bin, ihr Armseligen? Ihr müßt einen guten Grund haben, mich zu stören, wenn mein Zorn euch nicht vernichten soll!
Giorgio Gambino fuhr sich mit der Zungenspitze über die trocken werdenden Lippen. Aus geweiteten Augen starrte er den Dämon an, der auf dem Altarmarmor hockte und sich nicht bewegte. Aber jeder der Anwesenden glaubte, der Dämon würde ihn allein anstarren. Seine grell leuchtenden Augen schienen jedem der Sektenangehörigen bis auf den tiefsten Grund seiner Seele schauen zu können.
Der Sektenpriester faßte den Griff des Opferdolches jetzt mit beiden Händen und hielt die nach oben gerichtete Klinge vor seiner Brust und seinem Gesicht. Gambino sah es an der Klinge rötlich schimmern.
Antwortet! fauchte es lautlos in seinem Gehirn und in denen der anderen. Mit bedrohlicher Langsamkeit begann der Dämon auf dem schwarzen Marmor sich aufzurichten. Er wuchs Zentimèter um Zentimeter empor. Kein Mensch hätte seinen Körper so langsam aus der kauernden Haltung aufrichten können; seine Ausdauer hätte dafür nicht gereicht. Der Dämon dagegen hatte seine Muskeln unter totaler Kontrolle.
Der Sektenpriester verneigte sich leicht. Die Dolchspitze zeigte auf die Stirn des Dämons.
»Wir riefen dich, Fürst der Finsternis, weil wir eine Gunst von dir erbitten! Gewähre sie uns, und du kannst zurückkehren in die Gefilde der Hölle.«
Brüllendes Gelächter dröhnte durch den dunklen Raum, schien von den Wänden zurückzuprallen und einer mächtigen Woge gleich alles zu überschwemmen.
Die Gunst des Fürsten der Finsternis! Und abermals kam das brüllende Gelächter, das die Trommelfelle der versammelten Menschen zu zerreißen drohte.
»Wir haben dir dieses Opfer gebracht«, sagte der Priester in unbeirrter Festigkeit. »Du hast es angenommen. Du bist also damit zufrieden. So wirst du uns die Gunst gewähren.«
Von welcher Gunst sprichst du? Wie käme der Fürst der Finsternis dazu, sie euch zu gewähren? Gewährte er euch nicht schon genug?
Die teuflische Kreatur reckte sich immer höher empor. So, wie sich der Körper aufrichtete, hoben sich auch die Arme mit den Krallenfingern.
Gambino erschauerte. Um nichts in der Welt hätte er jetzt vorn vor dem Dämon stehen mögen, wo sich der Priester aufhielt. Es bedrückte ihn schon, überhaupt in diesem Raum zu sein. Er konnte seinen Blick kaum von dem Dämon wenden, wurde von ihm angezogen, und doch war ihm übel, und er hatte Angst. Angst davor, daß der Dämon dem Ritual entglitt und zu toben begann. Wenn er tötete, wenn er Gambino ebenfalls tötete - war dann nicht seine Seele rettungslos verloren, dem ewigen Höllenfeuer verfallen? Wenn der Dämon die Seele in die Klauen bekam und sie mit sich hinab zerrte in den glutenden Schlund…
»Du gewährtest uns Macht und Einfluß«, sagte der Priester. Gambino kam es vor, als klänge seine Stimme jetzt verzerrt, künstlich verlangsamt. Veränderte sich der Zeitablauf? Die ohnehin tiefe Stimme des Pristers sank um fast eine weitere Oktave hinab. Dumpfe Schwingungen erfüllten bei jeder Silbe den Raum.
»Doch es wird der Moment kommen, in dem Macht und Einfluß noch nicht reichen. Dafür erbitten wir eine weitergehende Gunst. Die Gunst, niemals zur Rechenschaft gezogen zu werden für etwas, das wir tun müssen.«
Der Dämon lachte erneut.
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