Im Auge des Orkans
die Nerven gehen. Nachdem er verschwunden war, senkte sich wieder
Schweigen auf die Gruppe, bis Angela Won schließlich sagte: »Ach, Sharon,
erzählen Sie uns doch von Ihrer Arbeit als Privatdetektiv. So etwas ist
sicherlich sehr aufregend.«
Wie ich solche Bemerkungen haßte. Ich
kannte alle Variationen zu diesem Thema. Doch ich nahm mich zusammen und
antwortete gelassen:
»Manchmal ist es auch aufregend, aber
meistens nur Routine: Einen Haufen Fragen stellen, eine Menge Notizen machen,
viele Berichte schreiben.«
»Was — kein Blick durchs Schlüsselloch
auf ehebrecherische Pärchen?«
Ich betrachtete Angela, wie sie lässig
in ihrem Sessel saß, die Beine übereinandergeschlagen und mit dem einen Fuß
rhythmisch auf und ab wippte. Wollte sie mich aus der Reserve locken? Wenn ja,
warum? Schließlich antwortete ich:
»Manchmal habe ich auch bei einem
Scheidungsfall mitgearbeitet, ja, aber so etwas liegt mir nicht besonders.«
»Und wie steht’s mit Mord? Patsy sagt,
Sie hätten einige Mordfälle gelöst.«
»Einige.«
»Das muß gefährlich sein. Tragen Sie
eine Waffe?«
»Manchmal.«
»Haben Sie schon mal jemanden getötet?«
Jetzt wagte sie sich auf ein Gebiet,
das selbst meine engsten Freunde nicht den Mut hatten zu betreten. In den
Jahren, in denen ich meinen Beruf ausübte, hatte ich viele gewaltsame Tode
erlebt. Die meisten waren von anderen verschuldet worden, zwei hätte ich
vielleicht verhindern können, und für einen war ich direkt verantwortlich
gewesen. Nach vielen schlaflosen Nächten hatte ich mich mit all diesen
Vorfällen abfinden können — bis zu einem gewissen Grad. Aber sie waren
keinesfalls das passende Thema für ein leichtes Geplauder zur Cocktailstunde.
»Tut mir leid«, sagte ich, »aber über
solche Dinge möchte ich nicht sprechen.«
Angela Won zuckte die Achseln. Sie
schien keine Frau zu sein, die man leicht beleidigen konnte.
Die Spannung im Zimmer wurde durch Neal
unterbrochen, der einen riesigen Barwagen mit allen nur erdenklichen Getränken
und Mixturen hereinrollte. Ich trank einen doppelten Bourbon, um mich zu
erwärmen, und allmählich fing ich an, den riesigen Raum zu mögen und meine
Gesellschaft freundlicher zu betrachten.
5
Ich träumte von Schafen, von Dutzenden
frischgeschorener nackter Schafe. Ich wußte, daß ich träumte, aber ich konnte
mich nicht vom Schlaf lösen. Und so beobachtete ich die Schafe und dachte, wie
dumm sie ohne ihr Fell aussahen. Dann wurde ihr zuerst leises Blöken immer
lauter...
Ich öffnete ein Auge. Jemand klopfte,
hämmerte.
Ich setzte mich im Bett auf, blickte
entgeistert durch das sonnendurchflutete Zimmer und sank in die Kissen zurück.
Natürlich — ich war auf Appleby Island. Und das Hämmern kam von irgendwo
draußen.
Im Zimmer war es kühl, das Bett war
weich, die Zudecke warm. Außer dem Hämmern war kein Laut zu hören, keine Wagen,
die angelassen wurden, keine Leute auf der Straße, die sich miteinander
unterhielten, keine Kinder, die schrien, wie ich es von der Stadt her kannte.
Aber auch im Haus selbst war alles still. Ich sah auf den elektrischen Wecker
auf dem Nachttisch — Viertel nach acht. Entweder stand man hier unglaublich
früh auf, oder die Leute waren Langschläfer.
Ich blickte wieder durchs Zimmer. Es
war frisch gestrichen und tapeziert. Gestern abend hatte Neal mir erzählt, daß
sie nur Halle und Wohnzimmer renoviert hätten, um bei seinem Bruder Sam einen
guten ersten Eindruck zu machen. Und sie hatten im ersten Stock ein paar Zimmer
gestrichen, damit Sam erkennen konnte, wie alles einmal werden sollte. Dieses
Zimmer mußte eines von ihnen sein.
Schließlich stand ich auf, ging auf
bloßen Füßen zum Fenster und sah hinaus. Das Zimmer ging auf den verunkrauteten
Vorderrasen hinaus, der mit vom nächtlichen Sturm abgebrochenen Ästen besät
war. Zum erstenmal sah ich Appleby Island bei Tageslicht. Das Haus stand auf
einem Hügel. Eine Auffahrt wand sich von der Straße hinauf, die in der einen
Richtung zur Fähre führte und in der anderen in den alten Obstgärten
verschwand. Rechts in meinem Blickfeld erhob sich hinter dem Rasen ein Deich,
etwa eineinhalb bis zwei Meter hoch, der das Land vor dem häufig über die Ufer
tretenden toten Wasserarm schützte. Hinter der Deichkrone war ein Gewirr aus
kahlen Ästen zu erkennen, von Platanen und Weiden und vermutlich Eichen, die um
Ufer wuchsen. Und weiter dahinter schimmerte das ruhige, spiegelblanke Wasser
des toten Wasserlaufs
Weitere Kostenlose Bücher