Im Bann der Liebe
er aufgewachsen war. Jetzt sei er ein wohlhabender Mann mit guten Manieren: Er besäße ein großes Haus, schöne Anzüge, hielte sich ein paar herrliche Pferde und genösse jeden Abend eine Zigarre zu einem Glas Brandy.
Susannah hatte die Ergüsse ihrer Freundin begierig, wenn auch mit leichtem Neid gelesen, denn sie arbeitete zu der Zeit als Gesellschafterin einer unbeugsamen alten Witwe, deren Geld langsam zur Neige ging. Und obwohl sie in einem großen Haus in Nantucket gewohnt hatte, war sie wie immer eine Außenseiterin gewesen. Als sie von Julia erfuhr, dass diese schwanger war, hatte Susannah sich riesig gefreut, aber auch ihre eigene Einsamkeit stärker denn je empfunden.
Im Laufe der nächsten sechs Briefe hatte sich Julias Schwärmerei über ihr neues Leben in Verbitterung gewandelt, der Trotz und schließlich Wut gefolgt waren. Die Märchenehe der Fairgrieves war nicht nur zerbrochen, sie war mit großem Lärm explodiert, und bei aller Wut Julias blieb der Grund dafür ein Geheimnis.
Seattle war verglichen mit dem ruhigen Boston natürlich ein lebendiger Ort. Susannah und Julia waren beide in St. Marys, einem weit abgelegenen, behüteten Heim für eigensinnige und unglückliche Mädchen aufgewachsen, wo sie in Musik, Latein, Handarbeit und Literatur unterrichtet worden waren. Julia war überglücklich gewesen, die Erziehung einer Lady genießen, wenn auch nicht mit deren Mitteln aufwachsen zu können. Dessen nicht genug, durfte sie dann die Liebe eines wunderbaren Mannes erfahren und im Glück schwelgen. Was war nur passiert, dass sich alles so dramatisch geändert hatte?
Susannahs Magen verkrampfte sich. Immer wieder hatte sie über genau diese Frage nachgegrübelt und versucht, einen Ausweg zu finden, aber ihre Bemühungen hatten nur für noch mehr Schmerz und Verwirrung gesorgt. Und sie konnte das Thema nicht ruhen lassen. Bei all ihren Fehlern war Julia die einzige Familie gewesen, die sie gehabt hatte, und das Band zwischen ihnen hielt sie auch über den Tod hinaus zusammen.
So reich und mächtig Mr. Fairgrieve auch war, überlegte Susannah, er musste glücklich gewesen sein, einen Schatz wie Julia gefunden zu haben: Julia mit ihrer zarten Haut, den großen grünen Augen und der Fülle dunkler Locken. Sie war fröhlich, warmherzig und übersprudelnd vor Leben gewesen, während Susannah eher scheu und introvertiert war. Und doch hatten die beiden zehnjährigen Mädchen schon ein paar Tage nach Julias Eintreffen in St. Maiy's - sie war schreiend und tretend von ihrer Mutter hingeschleppt worden, die Schauspielerin war und magere Zeiten erlebte - Blutsschwesternschaft geschlossen und den Pakt mit angestochenen Zeigefingern besiegelt.
Jäh aus ihren Gedanken gerissen, vernahm Susannah den leisen Schrei eines Babys - Julias Kind.
Mit klopfendem Herzen erhob sie sich, trat hinaus und lauschte. Geschlossene Türen säumten den Flur wie Wachsoldaten, die bereitstanden, um den ungeladenen Gast abzuweisen. Vornehme Gaslampen hingen an den Wänden, es duftete nach Bienenwachs. Susannah hatte das Gefühl, in einem antiken Tempel zu stehen.
Das Jammern des Babys war jetzt zu einem wütenden Geschrei angeschwollen, und ihre Aufregung wuchs mit jeder Tür, an die sie ihr Ohr presste. In diesem Moment öffneten sich die großen Flügeltüren am Ende des Ganges und Susannah erspähte einen Mann, ein wütend brüllendes Bündel im Arm.
»Verdammt, Maisie!«, brüllte er. »Wo bleiben Sie?« Dann entdeckte er Susannah, die wie gelähmt im Flur stand. Der Mann trug hohe Stiefel, enge Lederhosen, ein weißes Hemd und Hosenträger. »Wer zum Teufel sind Sie?«, blaffte er.
Susannah stand stocksteif da. Voller Panik versuchte sie zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus. Sie hatte gehofft, sich vernünftig vorstellen und alles erklären zu können, statt wie ein Dieb im Flur ertappt zu werden, aber diese Gelegenheit war jetzt vorbei.
»Sie müssen Mr. Fairgrieve sein«, brachte sie schließlich hervor und errötete.
»Und Sie sind?« Mit funkelnden Augen kam er auf sie zu. Das Baby hatte jetzt aufgehört zu schreien und kuschelte sich mit einem fast zufriedenen Gurgeln an seine Schulter. Er klopfte ihm beruhigend mit seiner kräftigen Holzfällerhand auf den Rücken. Von der Freundlichkeit und dem Humor, den Julia so gerühmt hatte, konnte Susannah nichts entdecken.
Sie schluckte und straffte dann ihre müden Schultern. »Ich heiße Susannah McKittrick. Ihre verstorbene Frau Julia war meine beste
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