Im Bann des Kindes
lassen - vielleicht wäre alles anders gekommen. Vielleicht hätte er sein Leben dabei verloren, doch was zählte seines, wenn es die Menschheit gerettet hätte?
Eine weitere Frage, auf die Raphael sich die Antwort schuldig blieb. Er war sich nur ziemlich sicher, daß sie nichts damit zu tun hatte, daß Salvat seinen Sohn nicht ins Verderben laufen lassen wollte. Denn die Bande der Illuminati waren gewiß stärker als jede Blutsverwandtschaft.
Raphael Baldacci schritt durch Schwärze. Der Boden zu seinen Füßen war schwarz, und alles ringsum ihn her war schwarz.
Vieles davon rührte von den Feuern her, mit denen die Menschen sich gegen die Vampire gewehrt hatten. Doch ein Teil der Schwärze mochte etwas anderes sein - war es sogar ganz bestimmt: das getrocknete Blut, das geflossen war im Krieg um die Welt. In einer Schlacht, die wie keine zuvor diese Bezeichnung verdient hatte ...
Der Gesandte wußte nicht, woher er all dieses Wissen bezog. Es war in ihm, weil es Teil der Geschichte dieser Welt war, durch die er ging. Und er wußte es mit derselben Gewißheit, die ihm verriet, daß er kein Gesandter mehr war. Er war einer der letzten freien Menschen, der letzte der Illuminati vielleicht. Und er war der einzige, in dem genug Kraft war, sich den Vampiren mit Erfolg entgegenzustellen.
Es waren kleine Erfolge, die seinen Weg durch diese Welt säumten. Aber sie summierten sich. Und vielleicht krönte er sie heute Nacht durch einen großen Sieg.
Baldacci blieb stehen, als er sein Ziel am Horizont gewahrte. Dunkle Buckel erhoben sich dort, flackernde Helligkeit tanzte da-zwischen.
Und über allem thronte die Silhouette einer gewaltigen Fledermaus.
Der junge Mann lief weiter, der Stadt der Vampire zu. Um den Mächtigsten der Alten Rasse zu stürzen.
Und zu töten.
*
Raphael Baldacci wurde zu einem Schatten unter Kreaturen, die keine Schatten warfen.
Ein Phänomen, das kaum auffiel, wenn man einem einzelnen Vampir begegnete. Hier jedoch, da ihre Schar nach Tausenden oder mehr zählte, war es anders.
Etwas fehlte, ebenso sicht- wie spürbar. Die Echos von Bewegungen, wie sie einst die Städte der Menschen erfüllt hatten.
Wie lange war es her? Wann hatte das Schreckensregime der Blutsauger begonnen? Auch das war eines der Dinge, die Raphael Bal-dacci nicht wußte, die ihm in flüchtigen Augenblicken zwar immer wieder durch den Kopf gingen, über die er jedoch nie lange genug nachdachte, um sich ihrer Absurdität bewußt zu werden. Weil etwas jeden Gedanken daran kappte.
Mit hellem Lachen ...
Baldacci sah Köpfe, die sich ihm zuwandten. Wieder und wieder. Die verfluchte Brut witterte ihn, doch er blieb nie lange genug an einem Fleck, um entdeckt zu werden. Er huschte weiter und weiter, lautlos und nichts als ein dunkler Schemen in der Nacht.
So glaubte er jedenfalls. Bis er die Berührung spürte.
Eine Hand packte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum. Raphael starrte in eine häßliche Visage, die sich in diesem Moment zum Schrei verzerrte. Die Züge des Vampirs gefroren zur Grimasse, als unsichtbare Hände seinen Kopf wie stählerne Zangen packten.
Für einen Beobachter mußte es aussehen, als würde der Vampir den Blick abwenden. Immer weiter und weiter. Bis die Bewegung unnatürlich wurde. Bis Nackenwirbel knackten.
Bevor sie jedoch brechen konnten, zog Raphael seine Kraft zurück.
Der Schmerz, der sich sengend das Rückgrat des Vampirs entlanggebrannt haben mußte, war stark genug gewesen, sein Bewußtsein auszulöschen. Haltlos sank der Blutsauger zu Boden, und Raphael zerrte ihn tiefer in die stinkende Gasse zwischen zwei Gebäuden hinein.
Er hatte ihn nicht töten dürfen. Die anderen Vampire hätten im Moment des Sterbens den Todesimpuls empfangen und somit gewußt, daß jemand hier war, der gegen sie vorzugehen trachtete.
»Schwächling.« Baldacci grinste auf den reglosen Körper hinab. Er konnte sich nicht verkneifen, ihm den Fuß in die Seite zu stoßen. Das Knacken der splitternden Rippen entschädigte ihn zumindest ein klein wenig dafür, daß ihm das wundervolle Geräusch des brechenden Genicks versagt geblieben war ...
Im Schutz der Gebäude lief Baldacci weiter, strebte unaufhaltsam dem Zentrum der Stadt zu, wo sich auf der Spitze einer Felsnadel der Palast erhob.
Er war sein Ziel.
Ihn zu erreichen eine Kunst.
Und ihn zu betreten eine Herausforderung.
In Sichtweite des Fußes des Felsenturmes verbarg Raphael Baldac-ci sich. Der Umfang der steinernen Säule war gewaltig.
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