Im Café der moeglichen Traeume
ausgebleichte Stoffsoldaten zwei Jacketts. Er vergrub sein Gesicht darin. Pullover, Sweatshirts, drei Paar Wollstrümpfe, Unterhemden und Unterhosen lagen ordentlich zusammengefaltet und nach Farben sortiert in den Schubladen, blau auf blau, weià auf weiÃ, schwarz auf schwarz. Es war ihm gar nicht aufgefallen, dass sein Bruder immer dieselben Farben getragen hatte.
Irgendjemand war vor ihm da gewesen. Irgendjemand hatte die Schubladen geleert und die Partituren, Musikzeitschriften und Zeitungsausschnitte entsorgt. Nicht einmal der Kuhteppich und die Astronauten waren noch da.
Mama, das Motiv für einen Selbstmord kann im Dunkeln liegen und sich in seiner Irrationalität nie ergründen lassen, aber du hast jede mögliche Antwort in dir verschlossen.
Ich wollte wissen, ob er es mitbekommen hat. Dass er starb, meine ich.
Auf dem Tisch ein vergilbter Zeitungsausschnitt.
Plötzlich war er nicht mehr bei uns
ANDREA
17 Jahre alt
Es trauern seine Mama, sein Papa, sein Bruder Diego
6. Dezember 1982
Sie hätten sich ruhig mehr Mühe geben können. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man geschrieben: »Gimme five. Auch von da oben.«
Diegos Herz schlug ruhig.
Magen, Lunge, Eingeweide waren an ihrem Platz. Die Emotionen waren gefriergetrocknet, und die jahrelang erwartete Explosion hatte sich nicht ereignet. Die Bombe war einfach nicht detoniert. Die Vergangenheit war nicht von allen Seiten über ihn hereingebrochen.
Erinnerungen können sich über Jahrzehnte hinweg in allen Einzelheiten erhalten, um sich dann plötzlich aufzulösen. Selbst die Scham schien verschwunden. Alles, von dem er gewünscht hatte, es möge verschwinden, war verschwunden. Hader, Wut, Hass, Eifersucht, sie waren nicht mehr da. Nur das Echo eines fernen Schmerzes bahnte sich noch einen Weg in sein Inneres. Er war ein Rekonvaleszent. Wie nach einer Grippe fühlte er sich, wenn der Körper wieder zu Kräften kommt und die AuÃenwelt tatsächlich der Erinnerung entspricht, bunt und gelassen. Vielleicht war das die Phase, die ihm gefehlt hat. Seine Jugend war im Nu vergangen, und er hatte keine Zeit gehabt, ihre Wunder zu würdigen.
»Ein Mann stirbt, eine Uhr bleibt stehen«, sagt Jung.
Er betrachtete die Rolex, die er seinem Vater in der Leichenhalle vom Handgelenk gelöst hatte: 14:07 Uhr, und alles war vorbei gewesen.
Huuiii.
Er lud sich das Cello auf die Schulter.
Dann trat er wieder in den Flur. Die Tür zog er zu, schloss sie aber nicht ab. In dieser Wohnung gab es nichts mehr, das ihm am Herzen lag.
Am Nachmittag ging er zum Friedhof und stand lange im Schnee, der seine Schultern bestäubte, als wollte er ihn reinigen.
Ãberall Schnee.
Dichter Schnee.
Leuchtender Schnee.
Er stieg auf den Hügel, wo die Bäume wie frierende Arme die Ãste ausstreckten und ihre Finger gen Himmel reckten. Es war, als wollten sie in Applaus ausbrechen, was sich, wenn man es recht bedachte, nicht sehr von einer Umarmung unterschied. Schneebröckchen plumpsten mit einem dumpfen Geräusch von den Zweigen. Sie schienen den Atem anzuhalten und sich dann im freien Fall herabzustürzen.
Diego war alleine.
Wem sonst wäre es wohl in den Sinn gekommen, bei einem derart scheuÃlichen Wetter seine Gedanken an diesem Ort abzuladen?
So viele Menschen, dort unten. Wer weiÃ, wie die Welt dort roch. Wie viele Haare, Gesichter, Arme, Knochen und lächelnde Münder waren da nicht, gemeinsam mit den dreien, wie Waren aufgestapelt?
Es ist so weit.
Ich bin gekommen, um jedem von euch ein paar Worte mitzugeben.
Seit Wochen denke ich darüber nach, sogar seit Monaten schon, aber ich habe die Kraft nicht gefunden und die Sache vor mir hergeschoben. Ich habe auf den Schnee gewartet. Jetzt, da ich es hierher geschafft habe, werde ich es versuchen.
Ihr Toten habt viel Zeit. Endlich seid ihr Andrea in dieses geheimnisvolle Blau nachgefolgt, wo man keine Worte braucht, sondern sich nur umarmen muss und versäumte Umarmungen nachholen kann, ein wunderbarer Menschenreigen. Ich stelle mir vor, wie ihr euch alles erzählt, was danach passiert ist.
Und dann wird Andrea euch wiedergeben, um was er euch gebracht hat.
In all dieser Zeit habe ich in einem Heft mit rotem Einband die Worte gesammelt, die ich gerne zu euch gesagt hätte, als ihr noch gelebt habt. Ich habe Wörter gesucht, die auf euch zutreffen. Wenn eine Frau ihren Mann verliert, schreibt man in ihren
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