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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S King
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hältst du die Hände über den Kopf wie ein Schiedsrichter, der das Spielfeld freigibt, und springst so hoch, wie du kannst. Ich mach das Gleiche. Zumindest deine Hände sollte ich sehen können, okay? Und dann komm ich zu dir.«
    O pfeife, und ich komme zu dir, mein Junge, dachte sie, ohne zu wissen, wo diese Verszeile nun schon wieder herstammte – möglicherweise hatte sie das Gedicht dazu auch im Literatureinführungsseminar gehört. Aber eines wusste sie bestimmt: Cal bewegte sich eindeutig von ihr weg, ganz egal, was er behauptete.
    »Becky? Becky? «
    »Also gut!«, rief sie. »Na los, mach schon!«
    »Eins! Zwei!« Er schrie geradezu. » DREI! «
    Mit fünfzehn hatte Becky DeMuth siebenunddreißig Kilo gewogen – ihr Vater hatte sie da immer als spindeldürr bezeichnet – und in der Schulauswahl am Staffellauf teilgenommen. Mit fünfzehn hatte sie problemlos auf den Händen von einem Ende der Schule bis zum anderen laufen können. Sie hätte nur zu gern geglaubt, dass sie immer noch dieses Mädchen war; manchmal hatte sie sich der Hoffnung hingegeben, dass sie immer so bleiben würde. Ihr Verstand hatte sich noch nicht damit abgefunden, dass sie neunzehn und schwanger war … und nicht mehr siebenunddreißig Kilo wog, sondern neunundfünfzig. Sie wollte in die Höhe springen – Houston, wir haben abgehoben –, hatte aber das Gefühl, es mit einem kleinen Kind im Huckepack zu tun (was, wenn man darüber nachdachte, ja auch durchaus der Fall war).
    Sie schaffte es gerade einmal, ganz kurz über die Graswipfel hinwegzublicken. Was sie sah, raubte ihr jedoch den Atem und erschreckte sie zutiefst.
    Cal und die Straße. Cal … und die Straße .
    Als sie wieder auf den Füßen landete, ging ihr der Aufprall durch und durch. Der matschige Boden unter ihr gab nach, und sie klatschte mit dem Hintern auf die nasse, schwarze Erde.
    Becky war der Meinung gewesen, sie wäre höchstens zwanzig Schritte in das Gras hineingegangen. Allerhöchstens dreißig. Die Straße hätte so nahe sein müssen, dass man eine Frisbeescheibe hinüberwerfen könnte. Stattdessen hatte sie den Eindruck, als wäre sie die gesamte Länge eines Footballfeldes entlanggelaufen und dann noch ein ganzes Stück weiter. Der verbeulte, rote Datsun, der über die Landstraße geflitzt war, hatte nicht größer ausgesehen als ein Matchboxauto. Hundertfünfzig Meter Gras – ein sich sanft wiegender Ozean aus grüner Moiréseide – stand zwischen ihr und dem schmalen Asphaltstreifen.
    Wie sie da im Schlamm hockte, war ihr erster Gedanke: Nein. Das ist unmöglich. Was du da gesehen hast, kann nicht sein.
    Als Nächstes musste sie an eine schlechte Schwimmerin denken, die vom Ebbstrom erfasst und immer weiter vom Ufer weggezogen wurde und die einfach nicht begriff, in welcher Gefahr sie sich befand, bis sie feststellte, dass ihre Rufe am Ufer von niemand gehört wurden.
    War sie schon verwirrt gewesen, wie weit entfernt die Landstraße war, so hatte sie der kurze Blick, den sie auf Cal erhascht hatte, noch mehr verstört. Nicht etwa weil er so weit weg gewesen wäre, sondern im Gegenteil. Sie hatte ihn in kaum drei Metern Entfernung aus dem Gras hochspringen sehen. Dabei hatten sie beide aus Leibeskräften schreien müssen, um sich einigermaßen verständigen zu können.
    Der Matsch war warm und klebrig, wie ein Mutterkuchen.
    Die Insekten summten wie wild durch das Gras.
    »Seien Sie vorsichtig!«, rief der Junge. »Sonst verirren Sie sich noch selbst!«
    Darauf folgte eine weitere Lachsalve – ein völlig überkandideltes Wiehern. Es stammte weder von Cal noch von dem Jungen, dieses Mal nicht. Und auch nicht von der Frau. Das Gelächter kam von irgendwo links. Jetzt verstummte es wieder und wurde vom Zirpen der Insekten verschluckt. Es hatte männlich geklungen und auch irgendwie so, als hätte da jemand zu viel getrunken.
    Plötzlich fiel Becky ein, was die sonderbare Mutter ganz am Anfang geschrien hatte: Hör auf zu rufen, Schatz! Sonst hört er dich noch!
    Was zum Teufel?
    »Was zum Teufel?«, brüllte Cal, als könnte er ihre Gedanken lesen. Was Becky nicht weiter verwunderte. Das Kamel und der Scheich, die denken beide gleich, sagte Mrs. DeMuth mit schöner Regelmäßigkeit. Hinz und Kunz, zwei Köpfe auf einem Rumpf, sagte Mr. DeMuth mit schöner Regelmäßigkeit.
    Einen Moment lang herrschte Stille, und nur der Wind und das Sirren der Insekten war zu hören. Und dann schrie Cal aus voller Lunge: » WAS ZUM TEUFEL IST HIER LOS? «

    Ungefähr

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