Im Innern des Wals
etwas von Dichtung versteht. Die Lektüre seiner
schlechtesten und auch vitalsten Gedichte wie »Gunga Din«
oder »Danny Deever« bereitet einem einen fast verstohlenen Genuß wie das Naschen billiger Süßigkeiten, für das manche Leute bis in reifere Jahre eine Vorliebe behalten haben. Aber auch bei seinen besten Passagen wird man das gleiche Gefühl nicht los, nämlich einer Verlockung durch etwas Unechtes, aber Verführerisches zu unterliegen. Keiner, der nicht gerade ein Snob ist oder lügt, wird behaupten wollen, daß ein Freund der Poesie Zeilen wie die folgenden nicht schön finden wird:
For the wind is in the palm trees, and the temple bells they say, 'Come you back, you British soldier, come you back to Mandalay!'
[Denn der Wind weht in den Palmen und die Tempelglocken
sagen: »Komm zurück, du englischer Soldat, komm zurück nach Mandalay!«]
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Und doch ist das keine Dichtung im Sinne etwa von »Felix
Randal« oder »Eiszapfen hängen an der Mauer«. Man wird
Kipling wohl am ehesten gerecht, wenn man, statt mit den
Worten »Verse« und »Dichtung« zu spielen, ihn ganz einfach als einen guten schlechten Poeten bezeichnet. Er ist als Poet das, was Harriet Beecher Stowe als Romanschreiberin war. Derartige Werke, die generationenlang als vulgär empfunden und
trotzdem immer wieder gelesen werden, sagen durch ihr bloßes Vorhandensein etwas über die Zeit aus, in der wir leben.
Es gibt viel gute schlechte englische Lyrik, die, wie ich es sagen würde, durchweg nach 1790 entstanden ist. Beispiele dieser guten schlechten Lyrik - ich wähle absichtlich ganz verschiedenartige - sind »The Bridge of the Sighs«, »When all the World is Young, Lad«, »The Charge of the Light Brigade«, Bret Hartes »Dickens in Camp«, »The Burial of Sir John
Moore«, »Jenny Kissed me«, »Keith of
Ravelston«,
»Casablanca«. Sie alle sind penetrant sentimental und können trotzdem von jemandem, der sich über ihre Mängel klar ist, sehr genossen werden. Man könnte eine dickleibige Anthologie von guten schlechten Gedichten zusammenstellen, wenn das
bezeichnenderweise nicht überflüssig wäre, weil gute schlechte Gedichte zu allgemein bekannt sind, als daß sich ein Neudruck noch lohnte. Es ist zwecklos, vorgeben zu wollen, daß in einer Zeit wie der unseren »gute Lyrik« noch wirklich populär werden könnte. Der Kult um diese am wenigsten akzeptierte Kunst ist heute zwangsläufig Sache eines sehr kleinen Kreises. Vielleicht bedarf diese Behauptung einer näheren Erklärung. Echte Lyrik kann manchmal die breite Masse ergreifen, wenn sie sich nicht dafür ausgibt. Als Beispiel dafür kann die folkloristische Poesie gelten, die es in England heute noch gibt, bestimmte Kinder-oder Gedächtnisverse, sowie anonyme Soldatenlieder mit
Texten, die zu Hornsignalen passen. Aber im großen und ganzen leben wir in einer Zeit, in der das Wort »Poesie« belächelt wird
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oder auf eisige Ablehnung stößt, wie das Wort »Gott« bei den meisten Menschen. Wenn einer gut Akkordeon spielen kann, so braucht er nur in die nächste Bar zu gehen, um innerhalb von fünf Minuten ein dankbares Publikum um sich zu scharen. Wie würde sich aber das gleiche Publikum verhalten, wenn einer vorschlagen würde, Shakespeare-Sonnette vorzutragen! Gute schlechte Gedichte können dagegen auch bei dem
unempfänglichsten Publikum ankommen, wenn man vorher für
die nötige Stimmung sorgt. Vor ein paar Monaten erzielte
Churchill eine große Wirkung, als er bei einer seiner Radio-Ansprachen Cloughs »Endeavour« rezitierte. Ich hörte die Ansprache zusammen mit Leuten, denen man nicht gerade
vorwerfen kann, sich viel aus Gedichten zu machen, und meiner Überzeugung nach machte der Sprung in die Poesie auf diese Leute Eindruck und sie nicht etwa verlegen. Aber nicht einmal Churchill hätte riskieren dürfen, den Leuten etwas zu bringen, was auf einem sehr viel höheren Niveau stand.
Insofern ein Versdichter populär sein kann, war es Kipling und ist es vermutlich heute noch. Bereits zu seinen Lebzeiten waren einige seiner Gedichte weit über seinen eigentlichen Leserkreis hinaus bekannt, bei Schulfeiern, als Pfadfinderlieder, durch Lederausgaben, Zitatensammlungen und Kalender und in der noch größeren Welt der Music Halls. Trotzdem hält es Eliot für angebracht, ihn herauszugeben, und bekennt sich damit zu einer Wertschätzung, die andere mit ihm teilen, aber nicht ehrlich genug sind, es auszusprechen. Die Tatsache, daß so
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