Im Innern des Wals
Verzweiflung, die, wenigstens zum Teil, nur vorgetäuscht ist. Und damit geht eine andere Betrachtung Hand in Hand, die vielleicht weniger naheliegt: ob man nicht gelegentlich an einem »falschen« Glauben ehrlicher festhält als an einem »wahren«.
Wenn man auf die Bücher zurückblickt, die aus persönlicher Erfahrung über den Krieg von 1914–18 geschrieben worden sind, stellt man fest, daß alle, die nach einer gewissen Zeit noch lesbar sind, einer passiven, negativen Haltung entstammen. Es sind Aufzeichnungen von etwas völlig Sinnlosem, ein Alptraum im leeren Raum. Das war natürlich nicht die Wirklichkeit des Krieges, aber es war die Wahrheit über eine individuelle Reaktion. Der Soldat, der unter feindlichem Sperrfeuer stürmte oder bis zur Hüfte in überschwemmten Schützengräben im Wasser stand, wußte nur, daß er in fürchterliche Vorgänge verwickelt war, denen er hilflos ausgeliefert blieb. Er war eher geeignet, aus seiner Hilflosigkeit und Unwissenheit heraus ein gutes Buch zu schreiben, als jemand, der angeblich das Ganze aus einer bestimmten Perspektive überblickte. Von allen Büchern, die während des Krieges entstanden, waren die besten von Leuten, die dem Krieg den Rücken zukehrten und versuchten, nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß ein Krieg im Gange war. E. M. Forster berichtete, wie er 1917 »Prufrock« und andere frühe Gedichte von Eliot gelesen habe und wie ermutigend es für ihn in jener Zeit gewesen sei, Gedichte in die Hand zu nehmen, die von dem allgemeinen Zeitgeist völlig unberührt waren:
»Sie sprachen von privatem Ekel und von Scheu, und von Menschen, die echt zu sein schienen, weil sie unattraktiv oder schwächlich waren … Hier war ein Protest, zwar ein schwacher, aber um so vertrauter, je schwächer er war … Jemand, der sich abwenden konnte, um über Damen und Wohnzimmer zu klagen, bewahrte einen winzigen Funken unserer Selbstachtung, unser menschliches Erbe.«
Das ist gut gesagt. MacNeice zitiert in dem von mir bereits erwähnten Buch diesen Absatz und fügt etwas selbstgefällig hinzu:
»Zehn Jahre später sollten die Dichter weniger schwächliche Proteste erheben und das menschliche Erbe in etwas anderer Weise bewahren … Die Betrachtung einer fragmentarischen Welt wird langweilig, und Eliots Nachfolger sind mehr daran interessiert, sie aufzuräumen …«
Ähnliche Bemerkungen sind über das ganze Werk von MacNeice verstreut. Er möchte uns glauben machen, daß Eliots »Nachfolger« (gemeint sind MacNeice und seine Freunde) gewissermaßen lautstärker »protestiert« hätten, als es Eliot mit der Veröffentlichung von »Prufrock« in dem Augenblick tat, als die alliierten Armeen gegen die Hindenburg-Linie anstürmten. Ich weiß nur nicht, wo diese »Proteste« zu finden sind. Aber in dem Gegensatz zwischen den Kommentaren von Forster und MacNeice liegt genau der Unterschied zwischen einem Mann, der weiß, was der Krieg 1914–18 bedeutete, und einem, der sich kaum an ihn erinnert. Die Wahrheit ist, daß es 1917 nichts gab, was ein denkender und fühlender Mensch tun konnte, außer menschlich zu bleiben, soweit das möglich war. Und eine Geste der Hilflosigkeit, ja selbst der Frivolität dürfte das Beste gewesen sein. Wäre ich im Ersten Weltkrieg Frontsoldat gewesen, hätte ich »Prufrock« eher in die Hand genommen als The First Hundred Thousand (von John Hay Beith, ersch. 1915) oder Horatio Bottomleys Letters to the Boys in the Trenches . Wie Forster hätte ich empfunden, daß Eliot durch das einfach-Beiseitestehen und mit-Vorkriegsgefühlen-Kontakthalten das menschliche Erbe bewahrte. Welch ein Trost wäre es in einer solchen Zeit gewesen, etwas von den kleinen Sorgen eines glatzköpfigen Intelligenzlers in mittleren Jahren zu lesen. So völlig verschieden vom Bajonettdrill! Nach Bomben und Lebensmittelschlangen, Werbeplakaten für die Armee eine menschliche Stimme! Welch ein Trost!
Aber schließlich war der Krieg von 1914–18 nur ein Höhepunkt in einer ständigen Krise. Heute braucht man kaum noch einen Krieg, um sich der Auflösung unserer Gesellschaft und der wachsenden Hilflosigkeit aller anständig denkenden Menschen bewußt zu werden. Aus diesem Grunde glaube ich, daß die passive, nichtkooperative Haltung, die sich in Henry Millers Werk findet, berechtigt ist. Gleichviel, ob es ausdrückt oder nicht ausdrückt, was Menschen fühlen sollten , vermutlich kommt es dem Ausdruck dessen nahe, was sie wirklich fühlen . Noch einmal, es ist eine
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