Im Innern des Wals
Miller.
3
Wäre jetzt der richtige Augenblick, um literarische »Schulen« ins Leben zu rufen, so könnte man mit Henry Miller eine neue beginnen.
Auf jeden Fall ist er der Markierungspunkt eines neuen, unerwarteten Pendelschlags, eines erstaunlichen Umschwungs. Seine Bücher sind eine Abkehr vom zoon politikon , dem »politischen Tier«, eine Rückkehr zu einer Einstellung, die nicht nur individualistisch, sondern völlig passiv ist – zum Standpunkt eines Mannes, der davon überzeugt ist, daß sich die globale Entwicklung seiner Kontrolle entzieht, und der auch kaum den Wunsch hat, sie zu kontrollieren.
Ich begegnete Miller zum erstenmal Ende 1936, als ich auf meinem Weg nach Spanien durch Paris kam. Was mich an ihm am meisten verunsicherte, war die Entdeckung, daß er für den Krieg in Spanien auch nicht das geringste Interesse zeigte. Er erklärte mir mit allem Nachdruck, daß nur ein Idiot in diesem Augenblick nach Spanien ginge. Er könne noch verstehen, wenn jemand aus rein egoistischen Gründen oder aus Neugier dahinginge, aber sich in dergleichen Dinge einzumischen, weil man sich dazu »moralisch verpflichtet« fühle, sei schiere Dummheit. Meine Ideen vom Kampf gegen den Faschismus und der Verteidigung der Demokratie seien nichts als Blödsinn. Unsere Zivilisation sei doch dazu bestimmt, weggespült und durch etwas so anderes ersetzt zu werden, daß wir es kaum noch menschlich würden nennen können – eine Aussicht, die ihn nicht weiter störte, wie er sagte. Und diese Ansicht zieht sich durch sein ganzes Werk. Überall findet sich dieses Vorgefühl der nahenden Katastrophe, und fast überall die unausgesprochene Überzeugung, daß es doch ganz gleichgültig sei. Die meines Wissens einzige politische Äußerung, die von ihm gedruckt existiert, ist rein negativ. Vor etwa einem Jahr schickte eine amerikanische Zeitschrift, das Marxist Quarterly , an verschiedene amerikanische Schriftsteller Fragebögen mit der Bitte, ihre Einstellung zum Thema Krieg zu beschreiben. Millers Antwort war ein extremer Pazifismus, aber nur auf seine Person bezogen; die individuelle Weigerung, zu kämpfen. Aber nichts ließ erkennen, daß er die Absicht hatte, andere zu der gleichen Haltung zu bekehren – es war praktisch eine Verantwortungslosigkeitserklärung.
Nun gibt es allerdings mehrere Formen der Verantwortungslosigkeit. Schriftsteller, die sich nicht mit dem aktuellen Weltgeschehen zu identifizieren wünschen, ignorieren es oder kämpfen dagegen an. Diejenigen, die imstande sind, es zu ignorieren, sind vermutlich Dummköpfe. Die andern, die die Dinge so weit durchschauen, daß sie den Wunsch haben, dagegen anzukämpfen, haben vermutlich auch soviel Einsicht, um zu begreifen, daß sie den Kampf nicht gewinnen können. Man nehme zum Beispiel ein Gedicht wie »The Scholar Gypsy« von Matthew Arnold (1822–88) mit seinem Geschimpf auf die »seltsame Krankheit des modernen Lebens« und seinem großartigen, defätistischen Gleichnis in der letzten Strophe. Es bringt eine der üblichen literarischen Haltungen zum Ausdruck, vielleicht sogar die vorherrschende der letzten hundert Jahre. Anderseits gibt es die »Progressiven«, die Ja-Sager, die vom Schlage Shaw-Wells, die hinter ihrem in die Zukunft projizierten Ich herlaufen und es umarmen, in dem Wahn, es sei die Zukunft. Im großen und ganzen bezogen die Schriftsteller der zwanziger Jahre die erste, die der dreißiger Jahre die zweite Stellung. Daneben findet sich natürlich immer die große Horde der Barries, Deepings und Dells, die einfach keine Ahnung haben, was um sie herum vorgeht. Millers Werk ist deshalb von symptomatischer Bedeutung, weil es frei ist von jeder Einstellung dieser Art. Er ist weder bemüht, das Weltgeschehen voranzutreiben, noch es zu bremsen, ohne es deshalb zu ignorieren. Ich würde sagen, daß er an den nahenden Ruin der westlichen Zivilisation viel fester glaubt als die meisten »revolutionären« Schriftsteller. Er fühlt sich nur nicht aufgerufen, etwas dagegen zu unternehmen. Er geigt, während Rom brennt, aber im Gegensatz zu der erdrückenden Mehrheit, die das gleiche tut, wendet er das Gesicht den Flammen zu.
In Max and the White Phagocytes findet sich eine jener Stellen, in denen ein Autor weit mehr über sich selbst sagt als über den, von dem er spricht. Das Buch enthält einen langen Essay über die Aufzeichnungen von Anaïs Nin. Ich habe nichts davon gelesen außer ein paar Bruchstücken, und ich glaube, sie sind auch nie
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