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Im Kinderzimmer

Im Kinderzimmer

Titel: Im Kinderzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Fyfield
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sie trug, beinahe über Nacht weiter geworden zu sein schienen, mit Leichtigkeit herunterrutschten und lose um ihre Taille hingen, wenn sie sich bewegte. Sie genoß das Gefühl, gar nichts an sich zu haben, das ihren kleinen Kinderkörper einschnürte. Sie betrachtete ihre riesigen, vorstehenden Kniescheiben; Stunde um Stunde wurden sie größer. Das Geräusch der Wespe, undeutliche Erinnerungen an Wintergeburtsta-ge und weniger Hitze brachten ihr das Insekt wieder zu Bewußtsein.
    Sie setzte sich auf, ganze drei Meter Abstand gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit. Dann fing sie an zu wimmern, rieb sich nochmals die Augen und starrte.
    Das Schiebefenster stand einen Spalt weit offen, war aber von seitlich versenkten Riegeln arretiert. Es hätte mehr als der durchschnittlichen Kraft eines Erwachsenen bedurft, das Fenster weiter hoch zu schieben. Sie hatte den unteren Rahmen zerkratzt, als sie ihn voller Verzweiflung mit den Nägeln bearbeitet hatte, nachdem ihre Schreie in der ersten Zeit unbeantwortet geblieben waren – nun vergessene Zeiten. Sie erinnerte sich, daß sie auf eine Kiste gestiegen war und mit einem der Blechspielzeuge gegen die Scheibe geschlagen hatte, doch weder Winkel noch Schlagkraft hatten genügt, um etwas auszurichten, und schließlich war das Spielzeug zerbrochen. Unter dem Schiebefenster in den Raum hineinragend, klemmte, bewacht von der Wespe, ein in Cellophan gewickeltes Sandwich. Sie blickte wild um sich, schwindelig vor Aufregung, die Furcht vor der Wespe war ver-6
    gessen. Furcht vor solchen Wesen, die surrten und stachen, war ein Schrecken, der einst seine Bestätigung erfahren hatte durch eine grauenerregende Begegnung mit einer gestreiften Biene, die sich eines Tages auf ihrem rosigen Unterarm niedergelassen und einen Schmerz verursacht hatte, den sie nicht einmal mit Schreien beschreiben könnte. In ihrem anderen Leben, dem Leben in Freiheit, hatte sie Bienen und Wespen schon aus großer Entfernung angeschrien: »Geh weg, böses Streifendings, geh weg.« Oder gebeten:
    »Liebe Wespe, geh bitte weg, iß jemand anders, bitte.« Aber jetzt war der Anblick der Wespe ohne Bedeutung. Sie rappelte sich hoch, unsicheren Schritts und taumelte, alles vor sich her schiebend, zum Fenster. Spielsachen, Kleider, Schachteln, alles stießen ihre nackten Füße zur Seite, als sie im Fensterspalt nach dem schlüpfrigen Cellophan angelte. Als sie es zwischen den Fingern spürte, stand sie plötzlich Auge in Auge dem Schwarz-und-Gelb der Wespe gegenüber, die mit geschäftiger Aggressivität neben ihrer Hand sirrte. Ihr wäre es vollkommen gleichgültig gewesen, hätte das Biest sie mitten ins Auge gestochen. Sie ließ sich zurückfallen, sah die Wespe nach wie vor am Fenster, während sie schon mit den Zähnen am Cellophan riß, Fetzen ausspuckte, den Inhalt mit einer Faust umklammernd und mit der anderen Hand sich Brot in den Mund stopfend. Sie mochte den Geschmack nicht – Roastbeef, scharfer Senf auf schrotigem Brot, trocken wie Löschpapier und voller Klumpen –, aber es schmeckte nach Essen, und sie schlang die Brocken gierig hinunter, bis sich ihr der Hals zuschnürte und sie würgen mußte. Hustend spuckte sie das meiste der ersten halben Schnitte wieder aus, hielt inne, starrte auf die matschigen Brocken und steckte sie sich wieder in den Mund. Sie kaute jetzt langsamer, nicht ohne die zweite Sand-wichhälfte ängstlich zu beäugen. Sie legte die freie Hand darüber, als ob das Sandwich sich von selbst bewegen könnte. Oder die Wespe ihr zuvorkommen könnte. Sie rutschte weiter in den Raum zurück, weg vom Fenster. Auch die Wespe würde sie notfalls aufessen. Bei diesem Gedanken, dem einzig bewußten seit dem Aufwachen – denn alles übrige war elementarstes Tun und Reagieren gewesen – zog sie eine Grimasse. Bäh!

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    Während sie die Brotrinde in einem Bissen hinunterschlang, kamen ihr die Maßregelungen ihrer Eltern in den Sinn. Es war noch mehr da; sie starrte die zweite Hälfte an, beeindruckt von deren Größe, wollte die Enttäuschung, daß sie aufgegessen wäre, noch hinauszö-
    gern, umklammerte die Schnitte und überlegte, wie sie den Genuß am längsten auskosten könnte. »Sitz still, iß langsam, kasper nicht herum«, dann schmeckt es besser. Als ob es auf den Geschmack ankäme! Sie schmeckte nur Salz auf den trockenen Lippen, derselbe Geschmack auch an den Fingern, mit denen sie sich die Augen gerieben hatte. Die waren verklebt von getrockneten Tränen, eine Salz-kruste, die

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