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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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renovierten Plattenbaus in der Gagarinstraße auf dem Balkon mit Sicht auf den Fernsehturm; unten stand noch immer Lenin in Bronze mit Blick nach Westen. Ihre Wohnung schien unverändert zu sein, doch hatte Mutter neuerdings den Glauben ihrer Kindheit wiederentdeckt. Sie gab sich katholisch und hatte in einer Ecke ihres Wohnzimmers eine Art Hausaltar eingerichtet, auf dem, zwischen Kerzen und Plastikblumen - weiße Lilien -, ein Marienbildchen aufgestellt stand; daneben jedoch war das Foto des im weißen Anzug gemütlich Pfeife rauchenden Genossen Stalin befremdlich. Auf diesen Altar zu starren und nichts zu sagen fiel schwer.
Ich hatte, was Mutter gerne aß, Bienenstich und Mohnkuchen mitgebracht. Kaum saß ich ziemlich ausgeleert da, sagte sie: »Um onser Konradchen mußte dir kaine iebertriebnen Sorjen machen. Der sitzt das jetzt ab, wasser sich ainjebrockt hat. Ond wenner denn wieder in Fraiheit is, wird er bestimmt ain ächter Radikaler sain, wie ech frieher aine jewesen bin, als miä die aignen Jenossen als Stalins letzte Jetreue beschimpft ham. Nee, dem passiert nuscht Schlimmes mehr. Ieber onserem Konradchen hat schon immer ain Schutzengel jeschwebt...«
Sie machte »ainjetäpperte Feneten«, guckte dann normal und gab ihrer Freundin Jenny, die wieder mal den richtigen Riecher gehabt hatte, recht: »Was in ons drinsteckt im Kopp ond ieberall, das Beese muß raus...«
Nein, von Mutter war kein Rat zu bekommen. Ihre weißhaarigen Gedanken blieben kurzgeschoren. Doch wo noch konnte ich anklopfen? Etwa bei Gabi?
Abermals fuhr ich auf mittlerweile eingefahrener Strecke von Schwerin nach Mölln und war, wie jedesmal bei meiner Ankunft, erstaunt über die sich bescheiden gebende Schönheit dieses Städtchens, das sich, historisch zurückgezählt, auf Till Eulenspiegel beruft, aber dessen Späße kaum aushalten könnte. Weil meine Ehemalige neuerdings einen Hausfreund hatte, einen, wie sie sagte, »ganz lieben, sanften und verletzlichen Menschen...«, trafen wir uns im benachbarten Ratzeburg und aßen - sie vegetarisch, ich ein Schnitzel - im »Seehof« mit Blick auf Schwäne, Enten und einen unermüdlichen Haubentaucher.
Nachdem sie mich einleitend mit dem Merksatz »Ich möchte dich weiß Gott nicht verletzen« für alles, was unseren Sohn betraf, verantwortlich gemacht hatte, sagte sie: »Du weißt, ich komme gegen den Jungen seit langem nicht an. Er sperrt sich. Ist für Liebe und ähnliche Zuwendungen nicht empfänglich. Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß tief in ihm, und zwar bis in die letzten Gedanken hinein, alles gründlich verdorben ist. Doch wenn ich mir deine Frau Mutter zur Anschauung bringe, ahne ich, was sich von ihr über ihren Herrn Sohn bis hin zu Konrad vererbt hat. Da wird sich nichts ändern lassen. Übrigens hat sich bei meinem letzten Besuch dein Sohn von mir losgesagt.«
Dann gab sie zu verstehen, daß sie mit ihrem »warmherzigen, dabei klugen und weltläufigen« Partner ein neues Leben beginnen wolle. Diese »kleine Chance« stehe ihr zu, nach allem, was sie durchgemacht habe. »Und stell dir vor, Paul, endlich habe ich die Kraft, mit dem Rauchen aufzuhören.« Wir verzichteten aufs Dessert. Ich verkniff mir, rücksichtsvoll, eine weitere Zigarette. Meine Ehemalige bestand darauf, für sich zu bezahlen.
Der Versuch, bei Rosi, der anhänglichen Freundin meines Sohnes, Rat zu holen, kommt mir im Nachhinein zwar lächerlich vor, aber auch aufschlußreich, in die Zukunft weisend.
Schon am nächsten Tag, der ein Besuchstag war, trafen wir uns in einem Neustrelitzer Café, kurz nachdem sie Konny gesehen hatte. Ihre Augen nicht mehr verpliert. Das sonst haltlos fallende Haar zum Knoten gebunden. Ihre unentwegt opferbereite Körperhaltung gestrafft. Selbst ihre fahrigen, immer wieder vergeblich an sich selbst Halt suchenden Hände lagen nunmehr geballt auf dem Tisch. Sie versicherte mir: »Wie Sie sich als Vater verhalten, ist Ihre Sache. Was mich betrifft: Ich werde immer an das Gute in Konny glauben, da kann kommen, was will. Er ist so stark, so vorbildlich stark. Und ich bin nicht die einzige, die fest, ganz fest an ihn glaubt - und zwar nicht nur in Gedanken.«
Ich sagte, das mit dem guten Kern stimme. Das sei im Prinzip auch mein Glaube. Ich wollte noch mehr sagen, bekam aber wie abschließend zu hören: »Nicht er, die Welt ist böse.« Es wurde Zeit für mich, meinen Besuch in der Jugendhaftanstalt anzumelden.
    Zum ersten Mal durfte ich ihn in seiner Zelle besuchen. Es

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