Im Krebsgang
Wilhelm Gustloff, der jüdische Medizinstudent David Frankfurter, der ihn 1936 erschossen hat, und nicht zuletzt der U- Bootkommandant der sowjetischen Rotbannerflotte, Alexander Marinesko, der das Schiff am 30. Januar 1945 mit mehr als 10.000 Menschen an Bord versenkt hat, unter ihnen über 4000 Kinder. Der Untergang des Schiffes steht zwar zentral, doch die Fortsetzung von Tullas fiktiver Lebensgeschichte und die historischen Biographien von Gustloff, Frankfurter und Marinesko waren gleichfalls zu erzählen. Aus dieser Konstruktion ergab sich die Erzählweise und daraus wiederum der Titel des Buches.
Tulla überlebt den Untergang?
Die Eltern der hochschwangeren Tulla Pokriefke gehen mit der Gustloff unter; sie jedoch rettet sich auf das einzige Begleitschiff und bringt während des Unterganges einen Jungen zur Welt. Dieser wird viel später zum Erzähler des Buches, das mit dem Satz anfängt: »Warum erst jetzt?« Es geht um ein Thema, das in Deutschland nie im Vordergrund der Diskussion stand, auch was mich betrifft. Wir waren mit anderen Katastrophen, mit eigenem Versagen, eigenen Verbrechen beschäftigt. So kommt Tullas Sohn erst als Fünfzigjähriger dazu, das Geschehene aus seiner Sicht zu beschreiben. Er stößt im Internet auf rechtsradikale Seiten zur Gustloff, was ihn neben den Mahnungen seiner Mutter dazu bringt, endlich mit seinem Bericht zu beginnen.
Sie bekennen sich, was Ihre Arbeit angeht, bewußt dazu, keinen Computer zu benutzen. Worin lag für Sie der Reiz, das Medium Internet in diese Geschichte einzubringen?
Die Tatsache, daß ich ihn nicht benutze, für mich nicht benötige, heißt ja nicht, daß ich etwas gegen Computer habe. Meine Zweifel fangen aber an, wenn sie etwas suggerieren, was man Kommunikation nennt, was jedoch nur ein starkes Surrogat für wirkliche Kommunikation ist. Junge Menschen nehmen den Computer als etwas Selbstverständliches, und gerade bei jungen Menschen verlagert sich das, was man landläufig unter Kommunikation verstand, ins Internet, in eine virtuelle Welt. In meiner Geschichte findet parallel zu dem, was der Sohn Tulla Pokriefkes vorträgt, der immerwährende Untergang der Gustloff im Internet statt, ins Bild gesetzt aus rechter, aus rechtsradikaler Sicht.
Welche Schwierigkeiten bot die literarische Umformung eines so unbeschreiblichen Schreckens, wie es der Untergang der Gustloff war?
Aus dem Zusammentreffen einer fiktiven Erzählwelt, die sich über Tulla Pokriefke und ihren Sohn aus »Hundejahre« und »Katz und Maus« herleitet, und dem vorliegenden historischen Material, das nach Bericht verlangt, ergibt sich ein Spannungsverhältnis von berichtendem Ton und erzählendem Ton. Reizvoll war für mich der im Buch mitschwingende Streit zwischen dem fiktiven Erzähler und dem Autor, meiner Person. Ich halte das Ganze für eine Novelle, er besteht darauf, einen Bericht zu schreiben.
Für die neonazistische Website zur Gustloff ist der Sohn des Erzählers und Enkel von Tulla verantwortlich. Was macht die Faszination des Nationalsozialismus für Jugendliche aus?
Themen wie die Flucht und Vertreibung von über zehn Millionen Menschen aus den verlorenen Ostprovinzen sind in Westdeutschland weitgehend verdrängt worden, und in der DDR gab es sie überhaupt nicht. So kann es bei allem Erschrecken darüber nicht verwundern, daß sich die Rechten der Themen bemächtigt haben und sie beispielsweise im Internet aufgreifen. Man muß sich nur umhören in Ost wie West und wird feststellen, daß nur ganz wenige jemals etwas von diesem Schiff oder der Schiffskatastrophe gehört haben. Wer Wilhelm Gustloff war, wer ihn erschossen hat und aus welchen Gründen, das ist wie weg, verdrängt. Deshalb erzähle ich die Geschichte des Schiffes vom Stapellauf bis zum Untergang, auch wie es zum Stapellauf und zur Benennung kam. Notwendig dazu gehört die Faszination, die von Propagandawerken der NS-Ideologie ausging, wie etwa der NS- Gemeinschaft »Kraft durch Freude« als Organisation der Deutschen Arbeitsfront, warum ab Mitte der dreißiger Jahre die KdF-Reisen an Bord der Gustloff und anderer Schiffe so begehrt waren.
Was die Faszination des Nationalsozialismus angeht, bleibt es auf der Gegenwartsebene nicht beim virtuellen Spiel ...
Weil die Geschichte nicht aufhört. Sie geht weiter und setzt sich, bis zur Karikatur verzerrt, in der heutigen jungen Generation fort. Aus diesen Gründen haben wir einen oft nicht zu fassenden und kaum zu begreifenden Neonazismus beispielsweise in
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