Im Land der Freien
nach dem Vorbild von Versailles angelegt wurde. Und plötzlich taucht Bill McCartney aus dem Wasser auf und hält ein Schild in die Höhe, auf dem » le Siècle des Lumières « steht. So nennen die Franzosen das Jahrhundert der Aufklärung. Lachend renne ich davon, als ob ich sie suchen wollte, jene Zeit, wo Lichter brannten in der Finsternis unaufhörlicher Gewissheiten.
Der Herr ist gut zu mir, am nächsten Morgen finde ich die Kraft, die Stadt zu verlassen. Seit ich Washington kenne, stinkt es vor Langeweile. Dass sie hier die meisten Morde des Landes erledigen, es wundert mich nicht. Irgendwo muss die Wut über so viel Leere und Protz raus. Als ich zum letzten Mal hier war, schien es am harmonischsten auf der Bahnhofstoilette der Union Station. Dort war es ergreifend still, nur das beruhigende Fließen von Wasser, weit weg vom Gedröhn des Blödsinns.
Ich mache noch einen Umweg und gehe zum Arlington Cemetery, auf der anderen Seite des Potomac River. Die 160 Hektar sehen gut aus. Dicke Bäume, hügelige Wiesen, geschmackvolle Gräber. Ich komme am Grab des Unbekannten Soldaten vorbei, im rechten Augenblick, um eine Wachablösung zu beobachten. Nach jeder Stunde wird ein Roboter mit Klobürstenhaarschnitt durch einen anderen Roboter ersetzt.
Das geht so: Der neue Mann taucht auf, hinter ihm der diensthabende Offizier. Als alle drei stillstehen, brüllt der augenblickliche Oberbefehlshaber in Kasernenhoflautstärke eine Rede ins Publikum (siehe Friedhof, siehe friedlich). Wir sind neun Zuschauer und weichen unwillkürlich einen Schritt zurück, so beeindruckt sind wir vom Gebrüll über Ehre und Größe des Vaterlands.
Anschließend die Zeremonie: marschieren, stillstehen, brüllen, jeden Brüller mit einem gequetschten »Hua« als angekommen signalisieren. Höhepunkt: Der Chef tritt vor und inspiziert mit Akribie die neuralgischen Punkte – Haarkürze, Bügelfalte, Schuhglanz und Hosenstall – seiner Untergebenen. Dann in Marschformation zurück, die frische Klobürste ist installiert.
Eine Frechheit, noch im Tod wird den armen Schweinen aufs Grab geschissen. Zu Lebzeiten als Kanonenfutter verheizt und nun eine »Ehrenwache« für die verfeuerten Leichen. Höhnisch.
WILLIAMSBURG
Am Greyhound-Schalter geht es mir wieder besser, entschieden besser. Weil ich mich anstellen muss und dabei freien Blick auf Dotty habe. Meine Reflexe sind zurück, auch der gestrige Crashkurs zur Einführung der Familienwerte in mein Leben scheint spurlos vorübergegangen zu sein. Dotty sieht fabelhaft aus. Sofort ziehe ich sie aus. Sexyer noch als ihr in einem schneeweißen, kurzärmeligen Hemd versteckter Oberkörper strahlt ihr Gesicht. Kein müder Angestelltenteint, kein genervter Kuhblick, dafür schnelle, wache Augen, ein Lachen für die Welt, die schmalen, sinnlichen Hände, mit denen sie die Fahrscheine der Passagiere ausstellt.
Als ich an der Reihe bin, will ich ihr vorschlagen, mit mir ein gemeinsames Zimmer im nahen Days Inn zu nehmen. Denn Schmusen und Lieben wäre doch amüsanter, als so dämliche Fragen anhören zu müssen wie: »Wann, bitte, geht der nächste Bus nach Williamsburg?« Aber da ich neben meiner Lust noch zweitausend Jahre christliches Abendland mit mir herumtrage, außerdem Angst haben muss, dass Dotty mich – sie plagen garantiert 300 Jahre feinster amerikanischer Puritanismus – mit einer Sexual-Harassment -Klage zur Polizei schickt, schlage ich ihr kein Doppelzimmer vor und stelle nur die dämliche Frage: »Wann, bitte, geht der nächste Bus nach Williamsburg?«
Glück im Unglück, denn fünfzehn Minuten später ist Dotty außer Sichtweite. Mit dem Rucksack und einer frischen Frustbeule steige ich ein, die Tür schließt sich, Dotty strahlt längst wieder einen anderen an. Hinter der Stadtgrenze beginnt das Schaukeln. Ich heile.
Es gibt keinen mitreißenden Grund, nach Williamsburg, der ehemaligen Hauptstadt von Virginia, zu reisen. Aber sie liegt nicht weit ab von meiner Strecke, an deren Ende ich irgendwann auf der anderen Seite des Kontinents, in San Francisco, ankommen will. Von der Ostküste auf einer langgezogenen Kurve im Süden nach Westen, so ungefähr stelle ich mir die Route vor. Einen detaillierteren Plan besitze ich nicht. Ich vertraue meiner Intuition. Und die ernährt sich von den Gerüchten, die ich höre, von den Geschichten, die mir Männer und Frauen erzählen werden, von den Zeitungen und Nachrichten, die ich am Weg finde.
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