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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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über 120 Millionen Para-Analphabeten – also all diejenigen, die lesen können, aber nicht wollen – ist das Finanzieren einer täglich zugänglichen und reichlich ausgestatteten Bibliothek ein Akt des Widerstands.
    In der New York Times stoße ich auf eine merkwürdige Nachricht. Vertreter afroamerikanischer Organisationen haben vehement dagegen protestiert, dass der Begriff » Nigger « auch in der neuen Ausgabe des Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary erwähnt wird. Sie wollen ihn nie wieder auftreten sehen. Das ist ein kurzsichtiges Begehren: Wir streichen das Wort » Auschwitz « und Auschwitz ist weg. Wir streichen die sechs Buchstaben » Nigger « und alles, was mit diesem kurzen Wort assoziiert wird – Rassenwahn, Lynchjustiz, Menschenhass –, hat nie stattgefunden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Geschichte als Puzzle, die freien Stellen bitte selber nachtragen.
    Witzige Parallele: Vor Jahren ließ das bayerische Kultusministerium die menschlichen »Zeugungsglieder« in den Biologiebüchern wegretuschieren. »Schamgegenden« – was für ein wunderbar christliches Wort – hätten in Schulbüchern nichts zu suchen. Den Sex übermalen, wie rührend, wie hilflos.
    Als Reisender, als Mensch allein, ist man mehr als andere auf das Wohlwollen von Fremden, die kindness of strangers , angewiesen. Für jedes warme Wort fühlt man sich doppelt dankbar. Es erleichtert so ungemein das Ankommen und Fortgehen. Und in den Staaten bin ich öfter dankbar als im blasierten Mitteleuropa. Kaufe ich dort etwas ein, werde ich das Gefühl nicht los, mich dafür zuerst entschuldigen zu müssen. Der Kunde als lästige Wanze, derer man sich zügig und mit steinernem Gesichtsausdruck entledigt.
    Hier läuft es so oft anders, denn hier in Amerika haben sie diese angenehme Oberflächlichkeit erfunden. Beispiel Williamsburg: Ich betrete die Fleischabteilung des K-Mart, die schinkenrunde Dorothy, wir haben uns nie zuvor gesehen, kümmert sich sofort um mich und fragt: » How are you doing today, young man? «, verweist auf das tolle Wetter, ist fix, packt ein, zwitschert: » Enjoy .«
    Aber ja doch, ich bin noch nicht draußen und mein Gesicht ist schon verschwunden hinter den anderen 120 Kundengesichtern, denen sie heute bereits » Have a nice day « hinterhergerufen hat.
    Doch das ist der springende Punkt. Es geht mir entschieden besser, wenn sie mir lächelnd die Wurstwaren aushändigt. Viel besser als in Ländern, in denen sie nicht lächeln und mir die Würste missmutig herüberreichen. Ich aber hinterher in einem Reiseführer nachlesen kann – während ich die Wurst verzehre –, dass die Menschen hier seriös seien, kaum zu Oberflächlichkeiten neigten und immer auf den Grund der Dinge gingen. Man müsse nur Geduld haben, länger bohren. Zum Teufel, die Zeit habe ich nicht. Für lebenslange Freundschaften braucht man ein Leben. Jetzt will ich die Wurst und ein Lächeln. Für das eine zahle ich und für das zweite lächle ich zurück. Hoch lebe die oberflächliche Dorothy.

CHARLOTTEVILLE
    Mit dem Greyhound weiter Richtung Süden. Während der Fahrt will ich entscheiden, wo ich bleibe. Manchmal steige ich aus und renne um das Terminal. Um die Umgebung anzutesten. Meistens wetze ich verschreckt zurück, da das Gesichtete nur eine mittlere Nervenkrise verspricht. So voll von Symbolen unsinnlicher Vergnügungen – Tankstellen, Fast Food, Parkplätze – scheint der Ort, dass Flucht zum ersten Menschenrecht wird.
    Fahrt durch North Carolina. Keine Landschaft, bei deren Anblick ein Herzstillstand droht. Es regnet, es schaukelt, vor mir sitzt ein elegant gekleideter Mensch, den ich frage, ob er etwas Interessantes zum Lesen für mich habe. Und die schöne Vera sagt hocherfreut ja, kramt in ihrer Reisetasche und reicht mir die Bibel. Ich wollte die Frau kennenlernen und jetzt muss ich die Korintherbriefe studieren. Ich fiel auf eine Exegetin herein, ihre Heilige Schrift ist voll intelligenter Anmerkungen und kommentierter Verweise auf andere Kapitel.
    Nach zwanzig Minuten, in denen ich anstellig und halblaut die Schriften der Propheten murmle, zeigt die Fromme Erbarmen. Ich darf aufhören, sie bittet mich sogar, neben ihr Platz zu nehmen. Und ab sofort wird es spannend. Wir reden. Das heißt, ich frage und sie erzählt. Sicher trägt die Atmosphäre bei. Der stille Greyhound, die leisen Tropfen an den Scheiben, die kommende Dunkelheit, es herrscht genau die richtige Temperatur für eine Geschichte. Und sie hat eine.
    Vor

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