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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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Erfahrung überließ ich nur eine Entscheidung: dass der Weg zum Pazifik über den Süden führen muss. Denn das ist der abenteuerlichste Teil der Vereinigten Staaten. Die Hitze, die Rednecks, die Gastfreundschaft, die Poesie, die Musik, viele bärenstarke Spinner hat dieser Erdteil schon beherbergt. Die schöne Gefahr, ihnen über den Weg zu laufen, die besteht täglich. Hier kämpfen sie noch, das Land ist noch nicht fertig. Es blutet noch immer als Schlachtfeld zwischen Gut und Böse. Wer im rechten Augenblick vorbeikommt, der hat die Chance, in die Schluchten heiligen Schwachsinns abzustürzen, so wunderlich bizarr und erheiternd, dass er von diesen Erinnerungen bis ans Ende seiner Tage nicht mehr lassen will.
    Williamsburg wird mich nicht enttäuschen. Am späten Abend finde ich eine Unterkunft bei Missis Lewis, die sich rüstig und einsam ein paar Dollar als Zimmerwirtin verdient. Fließendes Wasser, Seife, Handtuch und acht Stück schlaflose Kakerlaken sind im Preis inbegriffen. Das habe ich bis heute nicht verstanden: Die so technisch hochbegabten Amerikaner erfanden Waffen, um zehnmal pro Tag die Menschheit zu nuklearem Restmüll einzuäschern. Aber Bomben gegen ihre paar hundert Millionen Küchenschaben fallen ihnen nicht ein.
    Es wird trotzdem ein bemerkenswerter Abend. Weil ich » Doctor Judy and Jagger « treffe, auf 96.10 FM . Eine Ärztin und ein sarkastischer Kommentator, die als nächtliche Diskjockeys für einen Radiosender arbeiten, der für das Beste steht, was dieses Land zu bieten hat: Widersprüche, das andere Extrem, ein Bollwerk gegen die Kreuzzüge der Lusttöter und bigotten Dunkelbirnen. Man will zappeln vor Genuss. Die Ansage – »Nur für reife Hörer! Aber möglicherweise hörst du sowieso zu« – stimmt genau.
    Anrufer aus allen Ecken des Landes rufen an und packen ihre verstecktesten Geheimnisse aus. Vielleicht ist das der einzige Platz zwischen Himmel und Hölle in Amerika, wo einer oder eine im Schutz der Anonymität aussprechen darf, was jeden von ihnen heimsucht. Ohne dafür bestraft oder hingerichtet zu werden von denen, die festlegen, was normal und gesund ist. Und was nicht.
    Es beginnt harmlos. Jerry meldet sich und berichtet, dass er seine neunundsechzigjährige Großmutter beim keuchenden Liebesspiel mit ihrem Boyfriend beobachtet habe. Versehentlich, da er zu früh nach Hause gekommen sei und die Schlafzimmertür offen gestanden habe. Er stehe unter Schock, könne einfach nicht fassen, dass auch Greisinnen noch Geschlechtsteile hätten und sie benutzten.
    Jagger – er soll für Entspannung sorgen, entdramatisieren, provozieren – fragt Jerry, ob er gesehen habe, in welcher Position die Omi ins Keuchen schlitterte. Dr. Judy – die Medizinerin übernimmt den seriöseren Teil, fragt nach anderen Details, gibt Ratschläge – sieht nicht das geringste Problem, im Gegenteil, sie gratuliert Jerry zum genetischen Erbe seiner Familie, es sei stark und bejahend, und außerdem: Großmutters Lustseufzer seien ihr simples Menschenrecht. Wäre sie Opfer penetranter Männergewalt geworden, läge der Fall ganz anders. Aber offensichtlich seien beide ganz einverstanden. Bingo: Sex ist sexy und tut jedem Gutes, der ihn bejaht.
    Joey aus Iowa – weites Land, einsam gelegene Höfe! – ruft an. Ihn drückt es schwerer. Er habe bemerkt (Joey braucht Zeit, um sich zu sammeln), dass ihn das Quieken seiner Schweine stimuliere. Ob sie wüssten, was er sagen wolle? Judy und Jagger tun, als wüssten sie es nicht. Ob er denn ihren sirenengleichen Lockrufen nachgeben und sie – » sorry, sorry « – begatten dürfe. Er habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, finde sich säuisch und könne selber nicht fassen, dass derlei Verirrungen über ihn hereingebrochen seien.
    Seine Beichte löst zuerst eine Lachsalve im Studio aus. Nicht wegen seiner wilden Lust im Schweinegatter, eher wegen seines sozial korrekten Auftritts, seines Zerknittertseins, das anschaulich demonstriert, wie sehr ihn die Gesellschaft bereits mit ihren Ansichten von Bravsein und Todsünde im Griff hat. Natürlich gebe es kein Problem, solange die Ferkel es genössen und solange es in seine Seele Frieden brächte. » Go ahead .« Erlöst legt Joey auf.
    Ted berichtet von seinem seltsamen Begehr, das nur dann funktioniere, wenn er das Brausen eines Feuerwehrautos höre. Auf die Hupe könne er im Notfall verzichten, nicht aber auf die blauen Lichter. Sie erinnerten ihn an große, strahlende Brüste. Er müsse also seine Freundin

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