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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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immer zuerst in die Nähe einer Feuerwache schleppen, um erotisch voll einsatzfähig zu sein.
    Dr. Judy schlägt Ted einen Desensibilisierungskurs vor, wäre doch der Weg zum Feuerwehrhaus auf Dauer zu aufwändig und zu kostspielig. Er solle sich rote Spielzeugautos kaufen und nachschauen, ob er es schaffe, sich in ihrer Nähe zu betören. Er solle immer weniger dramatische Autos wählen, bis er bei einem ganz normalen angekommen sei. Dann wäre Liebe auch auf dem Rücksitz seines Buick möglich. Aber: »Vögle, solange du lebst. Es gibt kein ewiges Vögeln.« Ergriffen bedankt sich Ted für den Therapievorschlag und den Hinweis auf die Flüchtigkeit menschlicher Wollust.
    Bis weit nach Mitternacht kommen die Anrufe. Damit kein Missverständnis ausbricht: Nicht die stickigen Nachrichten von Jerry, Joey und Ted begeistern, sondern die aufsehenerregende Tatsache, dass eine solche Radiostation existiert. Als Flammenwerfer gegen den Perlmuttdunst alter Gedanken. Als Schleudersitz aus einer Welt von Verheimlichern und wimmernden Wiedergeborenen. Als Heilkur gegen die Lusthasser, die ihre sinnliche Impotenz zum Maß aller Dinge erheben.
    Williamsburg ist an vielen Ecken revolutionär. Mitte der zwanziger Jahre rettete John D. Rockefeller die versiechende Ex-Hauptstadt und spendierte ein paar seiner Ölmillionen, um den historischen Teil renovieren zu lassen. So erwarten den Besucher heute alte Kutschen und frische Pferdeäpfel auf den Wegen. In den Geschäften drängen sich die Besucher und kaufen von Herren mit Vorbürgerkriegs-Perücken einen »Revolutionstee«.
    Ein paar Straßen weiter steht das William & Mary College : eine alte, berühmte und ungemein geschmackvoll gelegene Universität, untergebracht in Gebäuden, die zu den Formen und Farben der sie umgebenden Bäume und Rasenflächen passen. Vom Besuch der campuseigenen Buchhandlung wäre allerdings abzuraten. Oder man betritt sie erst nach einer gewissen Gewöhnungsphase. Denn gerade für Liebhaber schmucker Bücherrücken ist das dazwischen mehrmalige Auftauchen von zellophanverpackter Unterwäsche » 100% pure Cotton « eine starke Herausforderung.
    In dieser Kleinstadt denken sie tatsächlich neu. Zumindest die Jungen. Vor der Uni-Kantine sitzen ein Dutzend Studenten, Frauen und Männer, und bieten Informationen und Broschüren an. Denn heute ist der » National Coming Out Day «: einmal im Jahr alle Angst überwinden und den Mut haben, sich nicht mehr vor einer anmaßenden Welt zu verstecken.
    Frank spricht mich an, bittet um eine Unterschrift zur ausliegenden Erklärung. Der Dreiundzwanzigjährige besticht, ein gewiefter Bursche, ein Schnelldenker, der Anwalt werden will. Er hat sich heute nicht als Homo offenbart, er sei schon immer out gewesen. Er ist hier, um den Heimlichen Mut einzureden. Als ich ihm erzähle, dass ich aus Europa komme, legt er los. Wahrscheinlich hält er uns alle für glutvolle Katholiken. Und der Junge kann reden: »Wann wird der Papst sich hei den Homosexuellen entschuldigen? In fünfzig Jahren? In fünfhundert Jahren?« Er zieht einen Time -Artikel hervor, der von der besserwisserischen Renitenz der Kirche spricht, von den ungeheuren Zeiträumen, die sie benötigt, um ihre Irrtümer (Kopernikus, Bruno, Galilei u. v. a.) und Verbrechen einzusehen. »Wann wird ein Konzil einberufen, um Abbitte zu tun für all die kriminelle Anmaßung, die da behauptet, dass männerliebende Männer nicht im Plan Gottes vorgesehen seien? Dass Analverkehr keinen Platz im Universum habe?«
    Franks harsche Reden katapultieren mich für einen Augenblick nach Guatemala City. Ein paar Wochen verbrachte ich dort als Untermieter in einem Haus, das einem homosexuellen Pärchen gehörte. An jedem Sonntagmorgen gab es einen absurden Grund zum Lachen: Die beiden machten sich auf den Weg zur 10-Uhr-Messe. Ich bettelte: »Antonio, Miguel, bitte liefert mir einen Grund, warum ihr eine Institution aufsucht, die nichts anderes unternimmt, als euch zu beleidigen?« Sie wussten ihn nicht. Claro: Die teuflische Maschinerie hatte bereits gegriffen. Schwulsein war schlimm genug. Aber die »Perversion« nicht beichten und bereuen, das schien noch verheerender.
    Bis zuletzt hat mich Williamsburg überrascht. Als ich am Sonntagvormittag vorbeikomme, ist die Stadtbücherei offen. Das ist ein fairer Pluralismus, alles ist zugänglich: das Wort Gottes, das aus der nahen Sonntagsschule schallt, und die vielen Worte der Menschen. In einem Land mit 33 Millionen Analphabeten und

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