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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Nun, da auf einmal sein Großvater fehlte, war nicht abzusehen, was aus ihm werden würde. Was Willie jetzt brauchte, war eine Geste von uns – eine deutliche und dramatische Beteuerung unserer Loyalität, einen Beweis, dass wir zu ihm hielten, welche Konsequenzen auch immer dies haben mochte. Die Beerdigung war ein enormes Risiko, aber ich glaube, sogar angesichts dessen, was sich daraus ergab, ist Victoria es nicht zu Unrecht eingegangen.
    Vor der Zeremonie ging Willie in die Garage, baute die Hupe aus dem Wagen aus und polierte eine gute Stunde daran herum. Es war eine dieser altmodischen Hupen, wie man sie früher an Kinderfahrrädern sah – nur größer und imposanter, mit einem Schalltrichter aus Messing und einem schwarzen Gummiballen fast von der Größe einer Pampelmuse. Dann hoben er und Sam neben den Weißdornsträuchern hinterm Haus eine Grube aus. Sechs von den Gästen trugen Fricks Leichnam aus dem Haus zum Grab, und als sie ihn hinabsenkten, legte Willie seinem Großvater die Hupe auf die Brust, damit sie zusammen mit ihm begraben würde. Darauf las Boris Stepanovich ein Gedicht, das er zu diesem Anlass geschrieben hatte, und dann schaufelten Sam und Willie das Loch wieder zu. Die Zeremonie war bestenfalls schlicht zu nennen – keine Gebete, keine Lieder –, aber allein dass wir sie abhielten, war bedeutungsvoll genug. Alle waren dort draußen versammelt – alle Gäste, alle Mitglieder des Personals –, und als es vorbei war, standen den meisten von uns Tränen in den Augen. Auf das Grab wurde ein kleiner Stein gelegt, um die Stelle zu markieren, und dann gingen wir ins Haus zurück.
    Danach gaben wir uns alle Mühe, Willie mit in den Gang der Dinge einzubeziehen. Victoria übertrug ihm neue Pflichten, erlaubte ihm sogar, mit dem Gewehr Wache zu halten, während ich in der Eingangshalle Vorstellungsgespräche führte, und Sam ließ es sich angelegen sein, ihn unter seine Fittiche zu nehmen – lehrte den Jungen, sich zu rasieren, seinen Namen zu schreiben, Addition und Subtraktion. Willie sprach gut auf diese Fürsorge an. Und hätte das Schicksal nicht böse zugeschlagen, ich glaube, er würde sich recht ordentlich gemacht haben. Etwa zwei Wochen nach Fricks Beerdigung erhielten wir Besuch von einem Polizisten aus dem Zentralrevier. Von lächerlichem Äußeren, aufgedunsen und rotgesichtig, protzte die Type mit der neuen Uniform herum, die den Offizieren dieser Dienststelle vor kurzem zugeteilt worden war – knallroter Rock, weiße Reithosen und schwarze Speziallederstiefel mit dazu passendem Käppi. Er knarrte schier in diesem absurden Aufzug, und ich sah schon seine Knöpfe abplatzen, so hartnäckig, wie er die Brust vorwölbte. Er knallte salutierend die Hacken zusammen, als ich die Tür öffnete, und ohne sein Maschinengewehr über der Schulter hätte ich ihn wahrscheinlich wieder fortgeschickt. «Ist dies der Wohnsitz von Victoria Woburn?», fragte er. «Ja», sagte ich. «Unter anderem.» – «Dann treten Sie beiseite, Miss», gab er zurück, schob mich aus dem Weg und trat in die Eingangshalle. «Die Ermittlungen beginnen unverzüglich.»
    Ich will dich mit Einzelheiten verschonen. Irgendjemand, so stellte sich heraus, hatte das Begräbnis bei der Polizei gemeldet, und nun war sie gekommen, um der Beschwerde nachzugehen. Es konnte nur einer von den Gästen gewesen sein, aber dies war ein so unerhörter Verrat, dass niemand von uns es fertigbrachte, darüber nachzudenken, wer es gewesen sein könnte. Zweifellos jemand, der an dem Begräbnis teilgenommen hatte, der Woburn House nach seinem begrenzten Aufenthalt hatte verlassen müssen und verbittert darüber war, wieder auf die Straße geworfen zu sein. Eine plausible Annahme, aber was besagte das noch. Vielleicht hatte die Polizei dem Betreffenden Geld gegeben, vielleicht hatte er es nur aus Gehässigkeit getan. Wie auch immer, die Angaben waren nur zu exakt. Gefolgt von zwei Assistenten schritt der Polizist in den Garten hinter dem Haus, sah sich einige Augenblicke lang scharf in dem Hof um und zeigte dann genau auf die Stelle, wo das Grab ausgehoben worden war. Man ließ Schaufeln kommen, und sogleich begannen die Assistenten nach der Leiche zu graben, von der sie bereits wussten, dass sie da war. «Ungeheuerlich», sagte der Polizist. «Was für ein Egoismus, in diesen unseren Zeiten jemanden zu begraben – man stelle sich diese Frechheit vor! Wenn wir keine Leichen mehr zum Verbrennen haben, gehen wir alle ganz schnell zugrunde, das

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