Im Land der letzten Dinge (German Edition)
treiben, dass man schließlich überhaupt nichts mehr hinunterbringt.
Noch schlimmer ist es für die, die ihren Hunger bekämpfen. Wer zu viel ans Essen denkt, bekommt nur Schwierigkeiten. Dies sind die Besessenen, die sich nicht mit den Tatsachen abfinden wollen. Sie durchstreifen die Straßen zu jeder Tageszeit auf der Suche nach Essbarem und gehen noch für den kleinsten Krümel enorme Wagnisse ein. So viel sie dabei auch finden mögen, es ist nie genug. Sie essen, ohne je satt zu werden, fallen mit tierischer Hast über ihr Essen her, stochern mit knochigen Fingern darin, und nie klappen ihre bebenden Kiefer zu. Das meiste trieft ihnen am Kinn entlang, und was sie verschlingen können, speien sie gewöhnlich nach wenigen Minuten wieder aus. Es ist ein langsamer Tod, als wenn das Essen Feuer wäre, ein Wahn, der sie von innen heraus verbrennt. Sie glauben, sie äßen, um zu überleben, doch am Ende sind sie es, die gegessen werden.
Tatsächlich ist das Essen eine diffizile Angelegenheit, und wer sich nicht mit dem zu bescheiden lernt, was ihm gegeben ist, wird nie mit sich in Frieden leben. Nahrung ist ständig knapp, und etwas, an dem man sich heute erfreut hat, wird ziemlich sicher morgen nicht vorhanden sein. Die städtischen Märkte sind wahrscheinlich die ungefährlichsten, zuverlässigsten Einkaufsstätten, aber die Preise sind hoch, und die Auswahl ist dürftig. Einmal gibt es nichts als Radieschen, ein andermal nichts als altbackenen Schokoladenkuchen. Diese häufige und drastische Umstellung des Speiseplans kann einem sehr auf den Magen schlagen. Doch bieten die städtischen Märkte den Vorteil, dass sie von der Polizei bewacht werden, da weiß man immerhin, dass das Erworbene im eigenen Magen und nicht in dem eines anderen landen wird. Nahrungsdiebstahl ist in den Straßen so verbreitet, dass er nicht einmal mehr als Verbrechen betrachtet wird. Darüber hinaus stellen die städtischen Märkte die einzige gesetzlich sanktionierte Form der Lebensmittelverteilung dar. Zwar gibt es viele private Lebensmittelverkäufer in der Stadt, doch können ihre Waren jederzeit beschlagnahmt werden. Und selbst wer es sich leisten kann, die zum Verbleib im Geschäft nötigen Bestechungsgelder an die Polizei zu bezahlen, muss stets mit Raubüberfällen rechnen. Diebe plagen auch die Kunden der privaten Märkte, und man hat statistisch nachgewiesen, dass jeder zweite Kauf einen Überfall nach sich zieht. Ich finde, bloß für den flüchtigen Genuss einer Orange oder den Geschmack von gekochtem Schinken so viel zu riskieren, lohnt sich kaum. Aber die Leute sind unersättlich: Der Hunger ist ein täglich wiederkehrender Fluch, und der Magen ist ein Fass ohne Boden, ein Loch, so groß wie die Welt. Die privaten Händler machen daher trotz aller Hindernisse gute Geschäfte, packen hier zusammen und ziehen dann dorthin; ständig auf dem Sprung, tauchen sie für ein oder zwei Stunden irgendwo auf und verschwinden ebenso plötzlich wieder. Doch ein Wort zur Warnung. Wenn du unbedingt Essen von den privaten Märkten haben willst, dann hüte dich vor den unorganisierten Händlern, denn betrogen wird überall, und es gibt viele Leute, die dir alles andrehen, bloß um einen Gewinn zu machen: mit Sägemehl gefüllte Eier und Orangen, Flaschen, die Pisse statt Bier enthalten. Nein, es gibt nichts, was die Leute nicht tun, und je früher du das begreifst, desto besser wird es dir gehen.
Wenn du durch die Straßen läufst, fuhr sie fort, musst du jeden einzelnen Schritt sorgfältig bedenken. Andernfalls ist ein Sturz unausbleiblich. Du musst ständig die Augen offenhalten, nach unten, nach vorne und nach hinten sehen, stets auf der Hut vor anderen Leuten und auf das Unvorhersehbare gefasst. Ein Zusammenstoß kann tödlich enden. Zwei prallen zusammen und schlagen gleich mit Fäusten aufeinander ein. Oder sie stürzen zu Boden und versuchen gar nicht mehr aufzustehen. Früher oder später kommt der Augenblick, da man nicht mehr aufzustehen versucht. Der Körper ist nun einmal schmerzempfindlich, dagegen hilft nichts. Und hier ist er es mehr als irgendwo sonst.
Die Trümmer sind besonders problematisch. Man hat sich auf die unsichtbaren Gräben, die jäh auftauchenden Steinhaufen, die flachen Furchen einzustellen, damit man nicht stolpert und sich verletzt. Und das Allerschlimmste sind die Wegzölle, die nur mit List zu umgehen sind. Wo immer Gebäude eingestürzt sind oder sich Müll angesammelt hat, stehen riesige Barrikaden mitten
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