Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Maggie Vine einen Anfall – brach in die wilde Clownspantomime einer Heulenden aus, rammte ihren Kopf gegen die Wand und schlug sich flatternd mit den Armen an die Beine, als wollte sie davonfliegen. Es war freilich für keinen von uns ein Zuckerlecken. Wir alle hatten uns daran gewöhnt, genug zu essen zu haben, und die Entbehrungen setzten unserem Organismus hart zu. Ich musste das ganze Problem für mich neu überdenken – was es bedeutet, Hunger zu haben; wie man die Vorstellung von Essen von der des Vergnügens trennt; wie man akzeptiert, was man bekommt, und nicht nach mehr verlangt. Um die Sommermitte bestand unsere Ernährung nur noch aus einer Mischung von Getreide, Stärke und Wurzelgemüse – Rüben, Rote Bete und Karotten. Wir versuchten, hinterm Haus einen Garten anzulegen, aber Saatgut war knapp, und mehr als ein paar Salatköpfe brachten wir nicht zustande. Maggie improvisierte, so gut sie konnte, kochte dünne Suppen, braute wütend Bohnen und Nudeln zusammen, stauchte mehlschnaubend Klöße zurecht – pappige Teigbälle, bei denen es einem hochkommen konnte. Verglichen damit, wie wir früher gegessen hatten, war dies ein grauenhafter Fraß, der uns aber immerhin am Leben erhielt. Das Schlimme daran war eigentlich nicht die Qualität des Essens, sondern die Gewissheit, dass es nur noch schlechter werden konnte. Schritt für Schritt verringerte sich der Unterschied zwischen Woburn House und dem Rest der Stadt. Wir wurden aufgesogen, und niemand von uns wusste ein Mittel dagegen.
Dann verschwand Maggie. Eines Tages war sie einfach nicht mehr da, und wir fanden keinerlei Hinweis darauf, wohin sie gegangen war. Sie musste losgezogen sein, während wir anderen oben schliefen, aber das erklärte kaum, warum sie alle ihre Sachen zurückgelassen hatte. Wenn sie vorgehabt hätte, sich abzusetzen, würde sie logischerweise doch wohl einen Koffer gepackt haben. Willie suchte zwei oder drei Tage lang die unmittelbare Umgebung nach ihr ab, fand aber keine Spur, und niemand, mit dem er sprach, hatte sie gesehen. Danach übernahmen Willie und ich die Küchenpflichten. Kaum fingen wir jedoch an, uns bei dieser Arbeit wohl zu fühlen, geschah schon wieder etwas. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, starb Willies Großvater. Wir suchten uns mit dem Gedanken zu trösten, dass Frick ja sehr alt gewesen sei – fast achtzig, sagte Victoria –, aber das half nicht viel. Er starb im Schlaf, eines Nachts Anfang Oktober, und Willie war es, der den Toten entdeckte: er wachte am Morgen auf und sah seinen Großvater noch im Bett liegen, und als er ihn wecken wollte, krachte der alte Mann zu seinem Entsetzen auf den Boden. Für Willie war es natürlich am schlimmsten, doch machte sein Tod uns allen auf die eine oder andere Weise zu schaffen. Sam vergoss bittere Tränen, als es geschah, und Boris Stepanovich sprach vier Stunden lang kein Wort, nachdem er die Neuigkeit erfahren hatte, womit er einen persönlichen Rekord aufgestellt haben dürfte. Victoria ließ sich nach außen hin nicht viel anmerken, aber dann tat sie etwas Unbesonnenes, und ich begriff, wie dicht am Rand der äußersten Verzweiflung sie stand. Es verstößt gegen alle Gesetze, die Toten zu begraben. Sämtliche Leichen müssen bei einem der Transformationszentren abgeliefert werden, und wer dieser Vorschrift zuwiderhandelt, wird aufs strengste bestraft: entweder mit einer Geldbuße von zweihundertfünfzig Glots, unmittelbar nach Zahlungsaufforderung zu entrichten, oder mit sofortiger Verbannung in eines der Arbeitslager im Südwesten des Landes. Trotz alledem verkündete Victoria, kaum eine Stunde nachdem ihr Fricks Ableben mitgeteilt worden war, dass sie beabsichtige, ihm noch am selben Nachmittag im Garten ein Begräbnis abzuhalten. Sam versuchte ihr das auszureden, aber sie ließ sich nicht umstimmen. «Niemand wird je davon erfahren», sagte sie. «Und wenn die Polizei dahinterkommt, ist es auch egal. Wir müssen tun, was richtig ist. Und wenn wir uns von einem törichten Gesetz daran hindern lassen wollten, wären wir überhaupt nichts mehr wert.» Es war ein leichtsinniger, völlig unverantwortlicher Akt, obwohl ich annehme, dass sie es im Grunde nur für Willie tat. Willie war ein Junge von unterdurchschnittlicher Intelligenz, und noch mit siebzehn war er in das Ungestüm eines Ich eingeschlossen, das von der Welt um es her so gut wie nichts verstand. Frick hatte für ihn gesorgt, hatte für ihn gedacht, hatte ihn buchstäblich durch das Leben geführt.
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