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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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riefen bei uns den Eindruck hervor, er entschwinde uns irgendwie. Früher oder später, so dachten wir, käme eine Zeit, da er nicht mehr hier sein würde, etwa so wie Maggie Vine nicht mehr hier war. Gerade damals hatten wir so viel zu tun, war die Schufterei, unser sinkendes Schiff oben zu halten, so zermürbend, dass man kaum an Willie dachte, wenn er nicht da war. Das nächste Mal blieb er sechs Tage lang weg, und da, glaube ich, hatten wir alle das Gefühl, ihn zum letzten Mal gesehen zu haben. Und dann, sehr spät eines Nachts in der ersten Dezemberwoche, wurden wir von einem entsetzlichen Poltern und Krachen in den unteren Räumen aus dem Schlaf geschreckt. Meine anfängliche Reaktion war der Gedanke, irgendwelche Leute aus der Schlange draußen seien ins Haus eingebrochen, doch gerade als Sam aus dem Bett sprang und die Schrotflinte packte, die wir in unserem Zimmer aufbewahrten, drang von unten Maschinengewehrfeuer herauf, ein gewaltiges Knallen und Prasseln von Kugeln, das immer mehr anschwoll. Ich hörte Leute schreien, fühlte das Haus von Schritten erbeben, hörte das Maschinengewehr die Wände durchsieben, die Fenster, die splitternden Dielen. Ich zündete eine Kerze an und folgte Sam an das obere Ende der Treppe, voll darauf gefasst, den Polizisten oder einen seiner Männer zu sehen, und bereitete mich darauf vor, in Fetzen geschossen zu werden. Victoria stürmte bereits vor uns hinunter, und soweit ich es mitbekam, war sie unbewaffnet. Es war natürlich nicht der Polizist, obwohl ich nicht daran zweifle, dass es sein Gewehr war. Willie war auf dem Absatz im ersten Stock und stieg uns mit der Waffe im Anschlag entgegen. Meine Kerze war viel zu weit weg, als dass ich sein Gesicht hätte erkennen können, aber ich sah ihn stehenbleiben, als er merkte, dass Victoria auf ihn zukam. «Das reicht, Willie», sagte sie. «Nimm das Gewehr runter. Nimm es auf der Stelle runter.» Ich weiß nicht, ob er vorhatte, auf sie zu schießen, aber heruntergenommen hat er es jedenfalls nicht. Sam stand inzwischen neben Victoria, und kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, drückte er auf den Abzug seiner Schrotflinte. Die Ladung traf Willie in die Brust, er flog jäh zurück und stürzte die Treppe hinunter, bis er unten aufschlug. Er war tot, ehe er dort ankam, denke ich, tot, bevor er überhaupt wusste, dass er erschossen worden war.

Das war vor rund sechs Wochen. Von den achtzehn Gästen, die zu der Zeit hier wohnten, wurden sieben getötet, fünf konnten entkommen, drei wurden verwundet, und drei blieben unverletzt. Mr. Hsia, ein Neuer, der uns am Abend zuvor mit Kartentricks unterhalten hatte, erlag um elf Uhr am nächsten Morgen seinen Schussverletzungen. Mr. Rosenberg und Mrs. Rudniki erholten sich. Wir pflegten sie über eine Woche lang, und als sie wieder so weit bei Kräften waren, dass sie gehen konnten, schickten wir sie fort. Sie waren die letzten Gäste von Woburn House. Am Morgen nach der Katastrophe machte Sam ein Schild und hämmerte es an die Vordertür: WOBURN HOUSE GESCHLOSSEN. Die Leute draußen entfernten sich nicht sofort, aber dann wurde es sehr kalt, und als die Tage vergingen und die Tür sich nicht öffnete, begann sich die Menge zu zerstreuen. Seitdem haben wir uns nicht mehr aus dem Haus gerührt, nur unsere nächsten Schritte geplant und versucht, auch durch diesen Winter zu kommen. Sam und Boris verbrachten täglich eine gewisse Zeit in der Garage, um den Wagen zu inspizieren und sich von seiner Funktionstüchtigkeit zu überzeugen. Wir planen nämlich, von hier wegzufahren, sobald es wieder warm wird. Sogar Victoria hat ihre Bereitschaft dazu erklärt, aber ich bin nicht sicher, ob es ihr wirklich ernst damit ist. Zu gegebener Zeit werden wir es schon erfahren. So, wie es in den vergangenen zweiundsiebzig Stunden am Himmel zugegangen ist, werden wir wohl nicht mehr lange warten müssen.
    Wir taten unser Bestes, die Leichen aus dem Weg zu räumen, die Schäden zu beseitigen und das Blut aufzuwischen. Mehr als das möchte ich nicht dazu sagen. Am übernächsten Nachmittag waren wir damit fertig. Sam und ich gingen nach oben, um uns ein bisschen hinzulegen, aber ich fand keine Ruhe. Sam hingegen schlief praktisch auf der Stelle ein. Da ich ihn nicht stören wollte, stieg ich aus dem Bett und setzte mich in einer Ecke des Zimmers auf den Boden. Zufällig lag dort meine alte Tasche, und ohne besonderen Grund begann ich darin herumzustöbern. Hierbei stieß ich wieder auf das blaue Notizbuch,

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