Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
dürfen. Echnaton und Tutanchaton hätten zusammenbleiben müssen, ganz gleich, was geschehen würde. Jetzt durfte ich den Knaben nicht allein in der Oase zurücklassen, um Echnaton zu Hilfe zu eilen. Ich konnte aber auch nicht länger dort verweilen, hatte ich doch Echnatons Vater Amenophis an dessen Sterbebett geschworen, mich immer um seinen Sohn zu kümmern. So eilte ich gemeinsam mit Prinz Tutanchaton zurück in die heilige Stadt des Sonnengottes, wir jagten durch Wüste und Steppe bis an den Nil, ich trieb die Ruderer unseresSchiffes an und erflehte bei allen Göttern günstige Winde, um so schnell wie möglich zurückzukehren. Dann lief ich mit meinem Schützling durch die Straßen der Stadt, bis wir vor dem Torturm des Palastes auf die Menschenmenge stießen, die starr vor Entsetzen ihren toten Herrscher, aus dessen Nase und Ohren träge Blut rann und dessen gebrochene Augen mich wie aus einer fernen, jenseitigen Welt anstarrten, umringt hatte.
Ich konnte die Blicke des Knaben nicht von seinem toten Vater fern halten. Während ich noch immer regungslos in die weit geöffneten Augen Echnatons sah, spürte ich, wie es Tutanchaton nicht mehr länger duldete, dass ich seinen Kopf gegen meinen Körper gepresst hielt, und wie er sich langsam aus meiner schützenden Umklammerung löste. Ich ließ ihn gewähren, denn mir fehlte in diesem Augenblick die Kraft, selbst einem Fünfjährigen Widerstand zu leisten. Geistesabwesend sah ich auf das Geschehen wie aus weiter Entfernung, und die Bilder vor meinen Augen wurden immer kleiner. Ich sah den Knaben, wie er neben seinem toten Vater kniete, wie er dessen Kopf liebevoll in seinen Armen hielt und über das zerzauste Haar Pharaos strich, als wollte er es schon geordnet haben, wenn sein Vater wieder erwachte. Doch ich nahm die Bilder nicht wirklich wahr. Ich nahm nur Augen wahr, die mich unentwegt aus der Unendlichkeit anblickten. Flehten sie mich nicht an? Hörte ich nicht ein Flehen, ein leises, Mitleid erregendes Flehen?
«Wach doch wieder auf, Vater!», flehte die Stimme. «Hörst du mich nicht? Ich bin es, dein Tutanchaton.»
Der Prinz presste seinen Kopf gegen die Wange seines Vaters und streichelte mit seiner Hand über die andere.
«Vater! Warum sagst du nichts?»
Erst jetzt begriff ich, was geschehen war, was ich wirklich vor mir sah, und mein Geist kehrte an den Ort des Schreckens zurück. Ich kniete langsam nieder und strich ebenso liebevoll über das Haar des Jungen, wie er es bei seinem Vater getan hatte. Ich blickte kurz nach oben, um mich zu vergewissern,dass dort keiner mehr war, der jetzt auch dem Knaben Schaden zufügen konnte. Dass Echnaton vom Turm des Stadtpalastes hinabgestürzt war, stand für mich außer Zweifel; es blieb nur die Ungewissheit, ob er es von sich aus getan hatte oder ob er ermordet worden war.
Ich wandte mich wieder Tutanchaton zu und flüsterte: «Dein Vater hört dich nicht. Er lebt nicht mehr, Tutanchaton.»
Ich war mir nicht sicher, ob er begriff, was ich gesagt hatte, doch er ließ von seinem Vater ab, und mit beiden Armen klammerte er sich jetzt fest an mich, drückte dabei sein Gesicht gegen meine Brust und ließ den Tränen seines Schmerzes und seiner Angst freien Lauf.
Seine Mutter Kija, die Geliebte des Königs, hatte er nie gekannt, denn sie war schon bei seiner Geburt gestorben. Und soeben hatte er auch seinen Vater verloren. Wie grausam musste es für diesen kleinen Jungen sein, schon so früh die Einsamkeit eines Waisen ertragen zu müssen!
Die Menschen um uns herum schwiegen jetzt ergriffen, sei es, weil der mächtigste Herr der Erde tot vor ihnen lag, oder wegen des herzzerreißenden Leides des jungen Prinzen. Hilflos standen wir da, verlassen vom Guten Gott, der siebzehn Jahre die Geschicke Ägyptens gelenkt hatte. Es bedurfte erst einer einfachen alten Frau, die sich ein Herz fasste und ein Tuch, das sie eben noch über der Schulter getragen hatte, über das Antlitz Pharaos legte, um es vor den Blicken der Menschen zu verbergen. Es war wohl der einzige Dienst, den sie zeit ihres vielleicht sonst eintönigen Lebens an ihrem Herrscher verrichten durfte. Aber es war ein Dienst, der sie in diesem Augenblick vor allen anderen Menschen groß machte.
Ich nahm nur am Rande wahr, dass die Menge wie von selbst eine Gasse gebildet hatte, um einem Mann Platz zu machen, den alle kannten und den auch alle fürchteten: Mahu, den Polizeiobersten von Achet-Aton.
Als ob er nicht schon längst gewusst hätte, wer der
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