Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
Vorwort des Autors
I n den langen Stunden vor dem Morgengrauen liege ich manchmal wach und horche. Auf die Zweige der Pappeln, die im Wind rauschen.
Auf das leise Rufen der großen Waldohreule. Und in seltenen Augenblicken auf das Flüstern von Merlins Stimme. Bevor ich Merlins
Stimme auch nur schwach hören, geschweige denn sie genug verstehen konnte, um die Geschichte seiner verlorenen Jugend zu erzählen,
musste ich ein wenig lernen. Und viel verlernen. Vor allem musste ich aufmerksam zuhören, und das nicht nur mit den Ohren.
Denn dieser Zauberer ist voller Überraschungen.
Wie alles begann,
der erste Band dieser Reihe, schilderte die seltsamen Ereignisse zu Beginn seiner Jahre, die im Lauf der Zeit in Vergessenheit
fielen. Warum sollten diese Jahre aus der traditionellen Überlieferung verschwinden und jetzt, nach Jahrhunderten, wieder
ans Licht kommen? Die Antwort mag etwas mit den großen Veränderungen – und dem schrecklichen Schmerz – zu tun haben, die Merlin
in dieser Periode durchlebte. Doch diese Jahre erwiesen sich als außerordentlich wichtig für den Menschen, der eines Tages
der Mentor von König Artus werden sollte.
Die Geschichte von Merlins verlorenen Jahren begann, als der Junge am Rande des Todes an die zerklüftete Küste von Wales gespült
wurde. Das Meer hatte ihm alles geraubt, was er je gekannt hatte. Ohne im Geringsten zuahnen, dass er eines Tages der größte Magier aller Zeiten werden würde, lag er da, gequält von den Schatten der Dinge, an
die er sich nicht erinnern konnte.
Denn er hatte kein Gedächtnis. Keine Heimat. Und keinen Namen. Aus Merlins eigenen Worten spüren wir die anhaltende seelische
Erschütterung und die verborgene Hoffnung dieses Tages:
Wenn ich die Augen schließe und zum brausenden Rhythmus des Meeres atme, kann ich mich immer noch an diesen längst vergangenen
Tag erinnern. Rau, kalt und still war er, die Hoffnung fehlte ihm wie meinen Lungen die Luft.
Seit jenem Tag habe ich viele andere gesehen, mehr als mir die Kraft zu zählen bleibt. Doch jener Tag strahlt so hell wie
der Galator selbst, so hell wie der Tag, an dem ich meinen eigenen Namen fand, oder der Tag, an dem ich zum ersten Mal ein
Baby wiegte, das den Namen Artus trug.
Vielleicht erinnere ich mich so deutlich daran, weil der Schmerz wie eine Narbe auf meiner Seele nicht verschwinden will.
Oder weil er das Ende von so vielem bedeutete. Oder weil er sowohl ein Anfang wie ein Ende war. Der Beginn von allem.
Jetzt geht die Geschichte des jungen Merlin weiter. Zwar hat er das Rätsel um den Tanz der Riesen gelöst, aber ein dunkler
Rätselknoten liegt noch vor ihm. Ob er ihn erfolgreich entwirren kann, zeitig genug, um seine Suche zu vollenden, bleibt abzuwarten.
Die Herausforderung ist gewaltig. Merlin ist zwar zufällig auf seine verborgenen Kräfte gestoßen, aber er beherrscht sie noch
längst nicht. Er hat einiges von der Weisheit der Druiden, der Griechen und Kelten gehört, aber er hat erst angefangen sie
zu verstehen. Und er hat seinen Namen entdeckt und eine Andeutung seiner wahren Bestimmung, dochdas Geheimnis seines innersten Wesens muss er noch enthüllen.
Kurz, er weiß noch nicht, was es heißt, ein Zauberer zu sein.
Wenn er den Magier in sich selbst finden soll, muss der junge Merlin, der schon so viel verloren hat, noch mehr verlieren.
Unterwegs kann er auch einiges gewinnen. Er kann endlich die Wahrheit über seine Freundin Rhia herausfinden, den Unterschied
zwischen Sicht und Einsicht verstehen und sogar zu seinem Kummer entdecken, dass er sowohl Finsternis wie Licht in sich birgt
– wie er zu seiner Freude feststellt, dass er auch andere Eigenschaften in sich trägt, die häufig Gegensätze genannt werden:
Jugend und Alter, Männliches und Weibliches, Sterbliches und Unsterbliches.
Es ist häufig so, dass legendäre Helden durch die drei Ebenen von Selbst, Welt und Anderswelt aufsteigen. Zuerst müssen sie
die verborgenen inneren Pfade entdecken. Danach müssen die Helden über die Feinde des sterblichen Lebens auf der Erde triumphieren.
Schließlich muss er oder sie sich mit den Gefahren und Möglichkeiten des Geistes auseinander setzen. Merlin hält sich nicht
an das traditionelle Muster: In diesem Buch, erst dem zweiten Band der Reihe, versucht er in die Anderswelt zu gelangen. Aber
wir haben bereits gesehen, dass Merlin sich häufig nicht an die Regeln hält. In Wahrheit erkundet Merlin in diesem Buch ebenso
wie
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