Im Land des weiten Himmels
Derby-Hut abzunehmen, umarmte Abbie sie mütterlich und sagte: »Ist das nicht wunderbar, dass wir uns hier wiedersehen? Wir haben schon in Fairbanks gehört, dass Sie hier ein – wie sagt man hier oben? –, ein Roadhouse führen. Tut mir leid wegen ihres Onkels, ja, auch das hat man uns erzählt, aber wie ich höre, haben Sie sich gut eingelebt.« Sie blickte zum Haus. »Oh … Ist das Ihr Roadhouse, Hannah?«
»Ja, und das ist Captain, mein neuer Freund.« Sie wies auf den Husky, der einen Hügel herabgestürmt kam, die Neuankömmlinge neugierig und sehr zu Joseph Farnworths Missfallen beschnüffelte und wieder davonrannte. »Aber kommen Sie doch herein! Sie haben doch sicher Hunger nach der langen Reise. Darf ich fragen, ob Sie über Nacht bleiben wollen, Abbie?«
»Keine Zeit«, antwortete ihr Mann für sie. »Ich muss heute Abend wieder in Fairbanks sein.« Er hatte sich seit ihrer Begegnung im Zug nicht verändert, wirkte noch genauso mürrisch und unnahbar wie damals. »Auch auf das Mittagessen müssen wir leider verzichten …, zumindest Mr Pearlman und ich. Wir müssen gleich weiter …, die Bäume ansehen. Aber Abbie kann gern bleiben, sie interessiert sich sowieso nicht fürs Geschäft.« Er bemerkte den vorwurfsvollen Blick seiner Frau. »Na, gut, vielleicht eine Tasse Kaffee …«
»Ich habe nur Becher.« Hannah führte sie ins Haus und bat sie an einen der Tische. »Legen Sie ab, und machen Sie sich’s bequem. Ich bin gleich zurück.«
»Hübsch haben Sie es hier«, lobte Abbie, als sie mit dem Kaffee kam. »Obwohl ich mir nicht vorstellen könnte, in dieser Einsamkeit zu leben. Wie halten Sie das nur aus? Hier gibt es doch Bären und Wölfe …« Sie betrachtete das Bärenfell vor dem Ofen. »Und wilde Indianer soll es auch noch geben.«
Hannah stellte die Dosenmilch und die Zuckerdose auf den Tisch und lächelte nachsichtig. »Die Indianer sind freundliche Menschen. Sie haben mir sehr geholfen, mich hier in der Wildnis zurechtzufinden. Ich habe während des langen Winters viel Zeit mit ihnen verbracht und einigen von ihnen sogar Unterricht gegeben. Ein bisschen Schreiben, Lesen und Rechnen.«
»Ach ja? Ich dachte, die Indianer wären faul.«
»Ein Vorurteil, Abbie. Nichts als ein Vorurteil.«
»Und sie wohnen hier ganz in der Nähe?«
»Ihr Sommercamp liegt zwei Meilen flussaufwärts, dort fischen sie während der warmen Monate. Die meiste Zeit des Jahres verbringen sie in ihrem Winterdorf, das liegt in einer Senke im Wald dort drüben.« Sie deutete aus dem Fenster. »Ich nehme an, dort wollen Ihr Mann und Mr Pearlman hin.«
Joseph Farnworth deutete ein Lächeln an. »Mr Pearlman sagt, dort gäbe es die besten Bäume in ganz Alaska. Wenn er recht hat, woran ich nicht zweifle, wird es wohl in Ihrer Gegend einiges an Veränderungen geben. Nicht zu Ihrem Nachteil, wie ich annehme. Wenn ich mir die Größe der Wälder ansehe, werden wir hier Jahre zu tun haben. Wir werden eine Siedlung errichten, und Sie müssen wahrscheinlich anbauen, um die vielen Gäste, die bei Ihnen absteigen, beherbergen zu können. Wir bringen Ihnen ungeahnten Wohlstand, Miss. Sie glauben nicht, was wir alles bewirken können.«
»Genau das ist meine Befürchtung«, erwiderte Hannah ernst. »Ich bin nach Alaska ausgewandert, um in der Natur zu leben, und nicht, um hier einen ähnlichen Rummel wie in New York zu haben. Aber um mich geht es nicht. Ich könnte verkaufen und irgendwo anders hinziehen. Alaska ist größer als Kalifornien und Texas zusammen, und Sie können schließlich nicht alle Bäume abholzen.«
»Das haben wir auch nicht vor«, fühlte sich Pearlman bemüßigt, etwas zu sagen. Er kannte ihre Einstellung und wollte wohl einem Streit vorbauen.
»Mir geht es um die Indianer. Sie haben sehr schlechte Erfahrungen mit den Goldsuchern gemacht, die vor einigen Jahren in dieses Land einfielen. Sie schleppten Krankheiten ein, und einige vergriffen sich an ihren Frauen.«
»Davon habe ich gehört, aber keine Angst: Unter meiner Führung wird es solche Übergriffe nicht geben. Ich beschäftige nur anständige Männer. Wer sich etwas in dieser Richtung zuschulden kommen lässt, ist sofort draußen.«
»Aber das lässt sich doch gar nicht vermeiden.« Hannah lehnte am Nachbartisch, ihren Kaffeebecher in der Hand. Auf ihrer Stirn zeigten sich Sorgenfalten. »Wo so viele Männer in einem Camp zusammen sind, gibt es immer Ärger. Es reicht schon, wenn einige von ihnen Alkohol ins Lager schmuggeln und bei den
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