Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
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Rani Händlerin schwang sich von ihrem großen, kastanienbraunen Hengst und nahm sich einen Moment Zeit, um den muskulösen Hals des Tieres zu tätscheln und selbst zu Atem zu kommen. Der Wind hatte ihre Lungen gepeinigt, als sie den Hügel hinaufgaloppiert war, sie war überrascht darüber, dass sie in den vergangenen zwei Jahren so wild reiten gelernt hatte. Hinter ihr preschten mehrere Reiter durchs hohe Gras. Am fernen Rand der weiten Ebene konnte Rani gerade so die Spitze des höchsten Turms der Stadt ausmachen, der im spätnachmittäglichen Licht bereits golden schimmerte.
Ranis Gedanken galten jedoch nicht Morens Türmen. Stattdessen war ihre ganze Aufmerksamkeit auf Gry gerichtet, den Falknermeister Morenias. Ranis Herz pochte, als sie näher an den Käfig herantrat, den der Falknermeister auf dem Hügel aufgestellt hatte. Gry hatte Moren am frühen Morgen verlassen und den stabilen Birkenholzkäfig und zwei preisgekrönte Falken auf einem Karren mitgenommen.
Als Rani die rotbraunen Federn ihres Turmfalken sah, die sich deutlich von den verwitterten Streben des Käfigs abhoben, hielt sie den Atem an. Kalindramina gefiel ihr so gut, dass sie kaum einen Blick für den anderen Raubvogel übrig hatte. Dieser war ein Wanderfalke, mit dem die als Händlerin geborene Rani niemals hätte jagen dürfen.
»Geht es ihr gut?«, fragte das Mädchen den Falknermeister, während sie sich über den Turmfalken beugte. »Hat die kurze Reise Kalindramina geschadet?«
Gry lachte schnaubend und zog aus langer Gewohnheit an seinem rechten Ohr. »Nichts wird diesem kleinen Falken schaden, Herrin. Sie ist zu unbedeutend, um Schaden zu erleiden. Kein Wunder, dass der König nicht mit Turmfalken jagt! Euch hatte ich jedoch früher am Tag hier erwartet.« Er milderte die in seinen Worten enthaltene Kritik durch ein weiteres Lachen.
»Ich wollte auch früher hier sein.« Rani runzelte die Stirn. Dies war der erste Tag seit langem, an dem sie sich von ihren Verpflichtungen an König Halaravillis Hof hatte freimachen können, frei von der endlosen Parade von Abgesandten und Adligen, Gildeleuten und Soldaten, die alle darauf erpicht waren, zum Ruhme Morenias beizutragen. Rani konnte sich kaum noch an die Zeit erinnern, die nur zwei Jahre zurücklag, als sie Angst davor gehabt hatte, die Stadtmauern zu verlassen, als sie außerhalb Morens Straßenräuber und Seuchen und alle Arten von Unheil gefürchtet hatte. Nun verging kaum ein Morgen, an dem sie nicht davon träumte, dem Palast und allen ihren höfischen Verpflichtungen zu entkommen. Sie atmete tief durch, füllte ihre Lungen mit dem süßen Duft des Herbstgrases.
Für den Nachmittag war ihre Zeit bereits wieder verplant. Rani hatte versprochen, an ihrer Stickerei zu arbeiten. Das Kindermädchen versicherte ihr häufig, sie würde niemals einen Ehemann finden, wenn sie bei ihrer Handarbeit keine sauberen, gleichmäßigen Stiche zusammenbrächte.
Natürlich, so rechtfertigte Rani sich, hätte das Kindermädchen vielleicht wirklich mehr Verständnis gezeigt, wenn es gewusst hätte, dass Kalindramina flugbereit war. Auch wenn die alte Frau nichts von der Falknerei verstand, hätte Rani sie vielleicht davon überzeugen können, dass der kleine Raubvogel in der Welt der Tausend Götter ein bedürftiges Wesen war, eine arme Seele, die menschlichen Kontakt benötigte. Außerdem, so hätte Rani erklären können, musste sie auch lernen, auf Mensch und Tier zu achten, wenn sie sich letztendlich eine gute Gildemeisterin nennen wollte.
Denn Rani hielt die Zukunft der Glasmaler in ihren Händen, so sicher, wie sie kürzlich die Zügel des Hengstes ergriffen hatte. Es würde wahrscheinlich Jahrzehnte dauern, aber der frühere Lehrling beabsichtigte, die Gilde wieder aufzubauen, die vor zwei Jahren vernichtet worden war. Die Buntglasmaler waren Gerüchten und Lügen zum Opfer gefallen, dem fälschlichen Glauben des Königs, sie seien für die Ermordung des Kronprinzen verantwortlich gewesen. Der neue König, Halaravilli, hatte sich jedoch an sein Wort gehalten und die Nachricht im Land verbreitet, dass den Glasmalern vergeben würde und sie nach Moren zurückkehren könnten. Leider hatten nur wenige der Gildeleute der königlichen Verkündigung geglaubt. Sie erinnerten sich an Blutvergießen und Folter. Sie erinnerten sich an Verrat und Tod.
Rani war jedoch entschlossen. Auch wenn sie die Behaglichkeit Morenias zeitweise verlassen müsste, auch wenn sie in ein fernes Land reisen müsste,
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