Im Land des weiten Himmels
vorüber, als Hannah das Lokal verließ. Henry’s Café schloss bereits um elf, aber es dauerte immer eine Weile, bis die letzten Gäste gegangen waren und sie alles Geschirr von den Tischen geräumt hatte.
Auf der 86 th Street empfing sie drückende Schwüle. Der Sommer war ungewöhnlich heiß, und die Wärme hing zwischen den mehrstöckigen Häusern und machte das Atmen schwer. Auf der Fourth Avenue, die sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung überqueren musste, herrschte auch um diese Zeit noch reger Verkehr, schienen sich die Wagen der Elektrischen, ein Pferdefuhrwerk und die unvermeidlichen Automobile gegenseitig zu behindern. Aus einem der Automobile, einem Model T, wie sie inzwischen gelernt hatte, stieg ein elegantes Paar, sie im knielangen, wehenden Kleid unter dem offenen Mantel, er in Anzug und Zylinder, und strebte dem Eingang eines vornehmen Mietshauses zu. Der Portier begrüßte sie mit einem Diener und hielt ihnen die Tür auf. Die Elektrische stoppte klingelnd an der Kreuzung und ließ das Pferd vor einem Fuhrwerk scheuen, anscheinend hatte sich das Tier noch immer nicht an den Lärm gewöhnt.
Hannah ging es ähnlich. Auch sie gewöhnte sich nur langsam an das Rattern und Klingeln der Elektrischen und das Brummen und Hupen der Model T. Vor einigen Tagen, in der Innenstadt, war sie ängstlich zusammengezuckt, als ein Dampfzug mit schnaubender Lokomotive auf den hochgelegten Schienen über sie hinweggefahren war. Sie kam aus einem winzigen Dorf in der Nähe von Ulm und hatte nie eine riesige Stadt wie New York gesehen. Ulm war nicht annähernd so groß, nicht einmal Bremerhaven, wo sie vor über zehn Jahren an Bord des Schiffes gegangen waren. New York war eine andere Welt, der »Vorraum der Hölle«, wie ihr Vater einmal gesagt hatte, und sie hatte sich immer unwohl gefühlt in den tiefen Häuserschluchten. Besonders nachts hatte sie das Gefühl, von dem ständigen Lärm förmlich erschlagen zu werden. Und wenn sie die Fourth Avenue überquerte und nach beiden Seiten blickte, beschlich sie die bedrohliche Ahnung, die Straße könnte weder einen Anfang noch ein Ende haben und man könnte tage -, wochen- oder jahrelang laufen, ohne etwas anderes als die Stadt zu sehen. Als gäbe es auf der Erde nur noch mehrstöckige Häuser und lauten Verkehr, als fräße sich New York immer weiter in die unberührte Natur hinein.
Ihre Wohnung lag im vierten Stock eines alten Mietshauses, meilenweit vom Glanz der breiten Avenues und des Broadway entfernt. Dort gab es weder einen Portier noch elektrisches Licht, geschweige denn einen dieser modernen Aufzüge, die einen wie durch Zauberhand in das gewünschte Stockwerk brachten. Wie jeden Abend war sie gezwungen, im flackernden Schein der Gaslampen über eine knarrende Holztreppe nach oben zu steigen und sich im Halbdunkel des schmalen Flurs zu ihrer Wohnung vorzutasten.
Trotz der vorgerückten Stunde herrschte Unruhe im Haus. Aus dem dunklen Flur im dritten Stock schallten ihr lautes Babygeschrei und die schrille Stimme einer aufgebrachten Frau entgegen, und auf ihrem Flur trat gähnend ein älterer Mann aus der einzigen Toilette des Stockwerks, schob sich die Hosenträger über die Schultern und murmelte im Vorbeigehen mürrisch einen Gruß. In der Nachbarwohnung quietschte lautstark das Bettgestell, eines der vielen Lebenszeichen des regen jungen Paares, das vor einem Monat eingezogen war.
Ihre Wohnung bestand aus einem winzigen Zimmer, das ihr Wilhelm Behringer nach dem Tod ihrer Mutter zugewiesen hatte. In die Zweizimmerwohnung, die sie mit ihrer Mutter bewohnt hatte, war das junge Paar gezogen. Die Miete war gleich geblieben.
Hannah warf ihre Handtasche aufs Bett und atmete tief durch. In ihrem Zimmer fühlte sie sich noch beengter als auf der Straße. Ihr Bett nahm ein Drittel des Raumes ein und ließ kaum Platz für den Herd, einen Tisch mit zwei Stühlen, eine Anrichte, in der sie das wenige Geschirr und das Besteck aufbewahrte, das ihr die Mutter hinterlassen hatte, und einen Schrank, in dem ihre Kleidung untergebracht war. Neben der Tür erhob sich ein bauchiger Eisenofen. Ihre Lebensmittel bewahrte sie in einem Karton auf der Anrichte neben dem Gasherd auf.
Hannah machte sich nicht die Mühe, die Kerosinlampe auf dem Tisch anzuzünden. Solange es das Wetter erlaubte, kletterte sie jede Nacht auf das Dach des Mietshauses, um dort wenigstens ein bisschen von der Freiheit zu spüren, die sie in der Stadt und ihrem Zimmer vergeblich suchte. Sie war mit dieser
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