030 - Hexensabbat
Für einen Augenblick verschwammen die Züge des Taxifahrers und änderten sich erschreckend. Plötzlich blickte Coco Zamis in Bruno Guozzis Gesicht. Der kleine, knochige Totenkopf mit den stumpfen Augen grinste sie bösartig an.
»Vielleicht bin ich dein Mörder, Coco.«
Das Gesicht zerfloß, und sie sah wieder in die hellblauen Augen des Fahrers.
»Ist Ihnen nicht gut, Fräulein?« fragte er besorgt. »Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Das hatte sie auch, doch sie hütete sich, es dem Fahrer zu sagen. »Es geht schon. Ich fühle mich nur etwas schwach. Fahren Sie weiter!« Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen halb. Sie atmete rascher.
Das erstemal hatte sie den Ruf vor einigen Monaten empfangen, doch sie hatte ihn nicht beachtet. Dann war er immer lauter, immer drängender geworden. Trotz ihrer teilweise wiedergewonnenen Fähigkeiten war es ihr nicht gelungen, die seltsamen Lockrufe zu ignorieren. Eine fremde Stimme forderte sie auf, nach Wien zu kommen. Bis vor zwei Tagen hatte sie Widerstand geleistet. Doch dann kamen die Geistererscheinungen.
Mitten in der Nacht war sie aufgewacht. Sie war allein im Schlafzimmer gewesen, da sich der Dämonenkiller gerade in Schweden aufhielt. Sie hatte sich aufgesetzt, und rund um ihr Bett hatten ein halbes Dutzend unheimlicher, halb durchsichtiger Gestalten gesessen, die mit langen Armen nach ihr gegriffen hatten. Sie hatte die Spukgestalten vertreiben wollen, doch es war ihr nicht gelungen; keiner ihrer Bannsprüche hatte eine Wirkung gezeigt. Dann waren die Gestalten von einer Minute zur anderen verschwunden, tauchten aber einige Minuten später wieder auf. Das Locken war stärker geworden. Die unbekannte Stimme befahl ihr, unverzüglich London zu verlassen und nach Wien zu fliegen. Coco dachte nicht daran, der Aufforderung zu folgen, obgleich sie tatsächlich einige Erbschaftsangelegenheiten in Ordnung bringen mußte. Aber sie wollte warten, bis Dorian Hunter aus Schweden zurück war.
In jener Nacht hatte sie keinen Schlaf mehr gefunden. Ruhelos war sie im Zimmer auf und ab gegangen und hatte sich gefragt, was diese Geistererscheinungen und der Ruf bedeuten mochten.
Doch es war noch schlimmer gekommen. Leute, die sie auf der Straße sah, veränderten sich vor ihren Augen, wurden zu Bekannten, Familienmitgliedern, die schon lange tot waren. Einige der Geister griffen nach ihr, zerrten sie an den Haaren und schlugen auf sie ein. Und sie hatte keinen Gegenzauber, mit dem sie die Spukgestalten vertreiben konnte. Sie lauerten überall auf sie: auf den Straßen, im Auto und in der Jugendstilvilla. Niemand außer ihr nahm sie wahr, nicht einmal Phillip, der Hermaphrodit, der sonst ein feines Gespür für solche Dinge besaß.
Endlich war das Locken übermächtig geworden. Es blieb ihr keine Wahl mehr. Sie mußte nach Wien. Sie packte einen Koffer, buchte den Flug und hinterließ, daß sie bei Skarabäus Toth, dem Anwalt ihrer Familie, unterkommen würde. Im Flugzeug hatten die Geistererscheinungen sie nicht verfolgt, aber sobald sie landete, war es mit der Ruhe erneut vorbei.
Coco schloß die Augen. Sie fühlte sich müde, wie gerädert. Nach einigen Minuten blickte sie aus dem Fenster. Es war dunkel geworden. Es schien ihr, als hätte sie Wien erst gestern verlassen. Nichts hatte sich an der Stadt verändert. Vor kurzem noch hatte sie sich auf den Besuch ihrer Heimatstadt gefreut, doch davon konnte jetzt nicht mehr die Rede sein.
Ursprünglich hatte sie sofort zu Skarabäus Toth fahren wollen, hatte es sich dann aber anders überlegt. Sie wollte erst dem Haus ihrer verstorbenen Familie einen Besuch abstatten.
Der Fahrer fuhr langsam die Jagdschloßgasse entlang. Er suchte nach der Ratmannsdorfgasse.
»Die zweite Gasse nach rechts«, sagte Coco.
»Danke.« Der Fahrer fuhr rascher. »Sagen Sie mir bitte, wann ich halten soll.«
Coco verkrampfte die Hände im Schoß. Ihre Unruhe wuchs. Irgend etwas Furchtbares erwartete sie, doch sie konnte sich nicht vorstellen, was es war. Sie beugte sich vor, als der Taxifahrer in die Ratmannsdorfgasse einbog. An beiden Seiten der Straße standen alte Kastanienbäume, deren blattlosen Äste sich leicht im Wind bewegten.
»Bleiben Sie jetzt stehen!« Sie zahlte und stieg aus dem Wagen. Der Fahrer holte ihren Koffer aus dem Kofferraum.
Coco vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels und sah dem Taxi nach. Als es hinter der nächsten Kurve verschwunden war, hob sie den Koffer und ging auf das
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