Im Land des weiten Himmels
Angewohnheit nicht allein. In einer schwülen Nacht wie dieser schliefen manche Familien sogar auf dem Dach, weil sie es in der stickigen Luft ihrer Wohnungen nicht mehr aushielten. Für die Kinder waren diese Nächte ein großes Abenteuer, auch sie hatte als junges Mädchen nach der Einwanderung so empfunden. Inzwischen war die Stunde, die sie vor dem Schlafengehen auf dem Dach verbrachte, ein festes Ritual, das ihr half, den Alltag zu überstehen.
Sie erreichte das Dach über eine schmale Wendeltreppe. Die Eisentür war hochgeklappt, und sie konnte bereits von der Treppe aus den Mond und die Sterne sehen. Auf dem Dach hielt sie einen Augenblick inne. Die Familien, die ihr Nachtlager zwischen den beiden Kaminen aufgeschlagen hatten, schliefen schon, und nur ein junges Pärchen lehnte eng umschlungen an einem der Kamine und blickte zum Himmel empor. Die beiden schienen Hannah gar nicht zu bemerken. Sie ging an ihnen vorbei und sah ihre Freundin Clara an ihrem gemeinsamen Stammplatz dicht vor der kniehohen Ziegelmauer sitzen.
»Hannah, da bist du ja!«, begrüßte ihre Freundin sie erfreut. Sie trug einen ihrer alten knöchellangen Röcke und eine abgetragene Bluse, ihre »Dachuniform«, wie sie scherzhaft erklärte. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«
Clara Schulz stammte aus Ulm und war schon vor fünfzehn Jahren mit ihren Eltern nach Amerika ausgewandert. Sie arbeitete im Kramerladen der Familie, einem der beliebtesten Läden am »German Broadway«, wie man die 86 th Street immer noch nannte. Schon während des Krieges hatte ihr Vater das Schild mit der Aufschrift »Lebensmittel Hans Schulz« gegen ein neues mit dem unverfänglichen »International Grocery Store« ausgetauscht, weil sonst kein Amerikaner mehr seinen Laden betreten hätte. Clara arbeitete hart daran, ihren deutschen Akzent abzulegen und sich den Kunden als Amerikanerin zu präsentieren, gab ihr Erspartes für Schreibmaschinenunterricht aus, um sobald wie möglich in einem Büro arbeiten zu können. Sie hatte ihre Haare kurz schneiden lassen und schminkte sich, sehr zum Missfallen ihrer Eltern, die wohl ahnten, dass sie nicht mehr lange in ihrem Laden arbeiten würde.
»Du glaubst nicht, was heute los war«, erwiderte Hannah. Sie setzte sich neben die Freundin und erzählte ihr von dem aufdringlichen Brauereibesitzer und ihrer hitzigen Reaktion auf seine Annäherungsversuche. Auch das gehörte zu ihrem Ritual. Auf dem Dach tauschten sie die Neuigkeiten des Tages aus und tratschten ein wenig.
»Henry Smith wollte dich die Reinigung bezahlen lassen?«
»Wenn ich’s dir doch sage«, antwortete Hannah. »Aber das lasse ich mir nicht gefallen, eher verliere ich meine Arbeit. Der Kerl war schlimmer als mein Vermieter!«
»Und das will was heißen.« Carla verzog ihren Mund zu jenem spöttischen Lächeln, mit dem sie vor allem ältere Männer um den Verstand bringen konnte, und Hannah ahnte, dass ihre Freundin noch eine ganz besondere Nachricht auf Lager hatte. »Was meinst du, wer heute Nachmittag in unserem Laden war?«, ließ die Neuigkeit nicht lange auf sich warten. »John Meredith Walker, der Dritte.«
Der Name sagte Hannah nichts. »Muss ich den kennen?«
»John Meredith Walker, der Dritte«, wiederholte Clara und betonte jedes einzelne Wort. »Der Sohn des berühmten Verlegers. Er will mit mir ausgehen und hat mir versprochen, mir eine Stellung als Schreibkraft zu verschaffen.«
»Du fängst als Sekretärin an?«
»Ist das nicht himmlisch? Jetzt bin ich endlich eine richtige Amerikanerin, und du wirst sehen, irgendwann heirate ich den Burschen, trage kostbare Pelze und extravagante Hüte und ziehe in eines der vornehmen Häuser an der Fifth Avenue oder am Central Park. Ich sehe mich schon in eines dieser neumodischen Automobile steigen, so wie Gloria Swanson in Why Change Your Wife . Hast du den Film gesehen?«
»Keine Zeit … und kein Geld. Ich komme kaum über die Runden.«
»Du musst dich einladen lassen. Mach den Männern in Henry’s Café schöne Augen, da sind doch bestimmt ein paar Prachtexemplare drunter. Oder sind die alle so ekelhaft wie dieser Brauereibesitzer … Wie hieß der Bursche noch?«
»Ron Lieberman.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, da wäre schon manchmal ein Netter. Aber für Affären bin ich nicht gemacht, und etwas Ernstes will ich nicht, weil ich doch bald aus New York abreise.«
»Willst du immer noch weg?«
»Und ob«, antwortete Hannah. »Sobald ich alle meine Schulden bezahlt
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