Im Namen der Engel: Die überirdischen Fälle der Bree Winston 1 (German Edition)
das Gemälde um.
Bree taumelte zurück, als wäre sie geschlagen worden. Ein Schwall von Licht und Geräuschen stürzte wie eine gewaltige Wasserwand auf sie ein.
Es war die Szene aus ihrem Traum. Das dunkle, blutige Wasser umbrodelte die ausgestreckten Hände der Ertrinkenden und Ertrunkenen. Am Horizont zeichnete sich der dunkle Rumpf eines Schiffes ab, auf dessen Deck, verzweifelt die Arme ausstreckend, die dunkelhaarige, helläugige Frau stand, deren Gesicht im Schatten lag. Über alldem schwebte ein riesiger Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, ein Symbol für Tod und Vernichtung. Es war, wie sie erkannte, ein Kormoran, der Fischerkönig der Vögel. Und für manche ein Avatar des Teufels.
Mit zitternden Händen suchte Bree in der Handtasche nach ihrem Handy. Sie musste jemanden anrufen, sie musste … was?
Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen, reiß dich zusammen! Sie kniff sich zwei Mal hintereinander, und zwar so fest, dass sich auf ihrem Unterarm ein Blutstropfen bildete.
Henry, der von alldem nichts bemerkte, betrachtete das Gemälde. »Eine Darstellung des Meeres«, sagte er. »Mit einer Art Schiffbruch, würde ich meinen, angesichts all der Hände im Wasser.« Er blickte hoch. »Irgendwie gruselig, oder?«
Bree setzte sich auf einen ramponierten Metallstuhl und steckte den Kopf zwischen die Knie. Sie war in ihrem ganzen Leben bisher nur ein einziges Mal ohnmächtig geworden, und zwar nachdem sie eine Wette gewonnen hatte, bei der es darum gegangen war, wer am schnellsten mit dem Fahrrad den Market Hill hochfahren konnte, sie oder ihre Schwester. Ein zweites Mal würde es nicht geben. Nicht wenn sie es irgendwie verhindern konnte.
»Sie sind doch nicht etwa schwanger oder so?«, fragte Henry freundlich. »Bei meiner Frau war das auch so, als unser erstes Kleines unterwegs war. Aber nur in den ersten Monaten.«
»Ich bin okay«, erwiderte Bree so gelassen wie möglich. Sie deutete ein Lächeln an. »Und ich bin absolut unschwanger.«
Er schwenkte das Bild hin und her. Bree starrte auf das Albtraummeer ihres Traums und sagte mit fester Stimme: »Danke vielmals, Henry, aber ich glaube, ich werde erst mal abwarten, bis alle Möbel aufgestellt sind, bevor ich mir … Kunstgegenstände zulege.«
»Neulich war ein Typ hier, der hat gesagt, das Gemälde stamme von einem Burschen namens Turner. Oder sei zumindest eine Kopie davon.«
»Wahrscheinlich hat er das Sklavenschiff gemeint«, erwiderte Bree. Sie war stolz darauf, dass ihre Stimme ruhig klang. »Das ist ein ganz berühmtes Gemälde von J. M. W. Turner, einem englischen Maler. Im späten achtzehnten Jahrhundert warf der Kapitän eines Sklavenschiffs alle Sklaven, die krank oder verletzt waren, über Bord und ließ sie ertrinken. Eine schreckliche Tragödie, die Turner unsterblich gemacht hat.« Sie zwang sich, das Bild genauer zu betrachten. Vielleicht war es ja tatsächlich eine Kopie dieses entsetzlichen Kunstwerks und nicht das namen lose Meer ihrer Träume. Der Himmel flammte in höllischen roten, orangenen und gelben Tönen. Das Meer brodelte. Das Schiff sah aus wie ein Sarg.
Nein. Es war ihr Meer. Ihr Albtraum, dessen war sie sich sicher. Zum einen gab es da diesen riesigen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, der am Himmel schwebte. Wenn der Schrecken eine Gestalt hatte, dann die dieses Vogels. Und die Gesichter der im Meer Ertrunkenen und Ertrinkenden wiesen alle Farben der Menschheit auf. Das war nicht Das Sklavenschiff , aber etwas, das ihm sehr ähnelte.
Sie drehte sich um und verließ mit zitternden Beinen den Laden.
Zehn Minuten später saß sie vor dem Coffeeshop der Kunsthochschule und hatte eine Tasse Java Jolt vor sich stehen. Es war noch zu früh, um Wein zu bestellen. Ein Glas Wein vor dem Lunch hieß doch wohl nicht, dass sie Alkoholikerin war, oder? Natürlich nicht. Sie würde noch nicht einmal darüber nachdenken, wo man so früh am Tage eine Bar finden könnte. Obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass Hooligan’s in der Liberty Street schon offen hatte und sie dort sogar etwas noch Stärkeres bekommen würde. Zittrig atmete sie durch, stieß ein selbstironisches Lachen aus und ignorierte die besorgten Blicke, die ihr die beiden Studenten am Nebentisch zuwarfen.
Als ihr Handy klingelte, packte sie es mit einer Hand, die sich arthritisch anfühlte, und hatte schon den Eindruck, als habe ihr gerade jemand einen Rettungsring zugeworfen.
»Miss Beaufort?«
»Professor Cianquino!« Sie ließ sich gegen die Rückenlehne
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