Im Namen der Engel: Die überirdischen Fälle der Bree Winston 1 (German Edition)
des Metallstuhls sinken. Ruhig. Sie musste ruhig bleiben. Sie bohrte sich ihre Fingernägel ins Knie, und der Schmerz half ihr, sich zu konzentrieren. »Ich bin ja so froh, dass Sie anrufen«, sagte sie munter. »Ich wollte Ihnen nämlich erzählen, wie sehr ich Ihr wunderbares Geschenk zu schätzen weiß.«
»Dann ist das Paket also gestern Abend angekommen«, entgegnete er. Er hatte eine ruhige, helle Tenorstimme. Wenn er etwas lustig fand – was nicht oft passierte –, gab er ein überraschend hohes Kichern von sich. Dieser Umstand sowie die unverwüstliche Jugendlichkeit, die sein muskulöser Körper ausstrahlte, erinnerten sie bisweilen an den Actionstar Jackie Chan. Hauptsächlich rief er ihr jedoch Michelangelos strenge Darstellungen Gottes in Erinnerung. Professor Cianquino hatte sich voll und ganz der intellektuellen Disziplin und einer rigorosen Gelehrsamkeit verschrieben. An der juristischen Fakultät zogen seine öffentlichen Vorlesungen so viele Zuhörer an, dass etliche von ihnen stehen mussten. Doch nur eine Handvoll Studenten wagte es, seine Seminare zu besuchen. Diejenigen, die es taten und bis zum Schluss durchhielten, wurden später oft selbst herausragende Gelehrte. Bree hatte seine Kurse mit einer Drei absolviert und empfand es als unverdientes Glück, dass ihr dies gelungen war.
»UPS hat mir das Paket bis vor die Tür gebracht«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben meine Dankesnachricht erhalten? Und ich würde Sie wirklich gern zum Lunch einladen.«
»Leider bin ich im Augenblick ans Haus gefesselt«, erwiderte er. »Ein altes Problem, das sich wieder eingestellt hat.«
»Das tut mir … sehr leid.« Bree machte eine Pause, weil sie nicht recht wusste, wie sie fortfahren sollte. Professor Cianquino war ein reservierter, förmlicher Mensch. Es war einfach nicht möglich, dass sie sich unverblümt nach seiner Gesundheit erkundigte. Doch er hatte von »ans Haus gefesselt« gesprochen, nicht von »ans Bett«. Er wohnte auf Melrose, draußen am Fluss. Sie war schon einmal dort gewesen, mit einer Seminargruppe. Doch trotz Professor Cianquinos Höflichkeit hatte ihr der Ort nicht gefallen, was dumm war, weil das Anwesen prachtvoll und der Professor ein hervorragender, wenn auch reservierter Gastgeber gewesen war. Sie überwand ihre Zaghaftigkeit. »Dürfte ich wohl bei Ihnen vorbeikommen?« An sein Apartment grenzte, wenn sie sich recht erinnerte, hinten ein Garten an. »Wenn es nicht regnet, könnte ich vielleicht sogar heute schon kommen und ein Picknick mitbringen?«
»Gern«, erwiderte er ein wenig distanziert. »Das klingt recht nett. Gegen zwölf Uhr dreißig würde mir gut passen.«
»Gibt es etwas, das Sie im Moment nicht essen dürfen?«
»Mein Bein macht mir zu schaffen, Bree, nicht meine Verdauung«, sagte er unwirsch.
Bree schluckte ein »Yes, Sir« hinunter und unterdrückte den Impuls, vor dem Handy zu salutieren. »Dann bis zwölf Uhr dreißig.« Sie legte auf und verzog das Gesicht. Zu den Studenten, die damals auf Melrose zusammengekommen waren, hatte auch Payton McAllister gehört. Payton die Ratte. Sie hatte sich in ihn verliebt, während sie alle in der mit Rosen bewachsenen Laube hinter dem Haus saßen. Er hatte eine ausführliche, gelehrte und enga gierte Verteidigungsrede zum Sullivanschen Anti-Trust-Gesetz gehalten, während er in Shorts und T-Shirt auf und ab ging, einer Bekleidung, die genug Muskeln zeigte, um Bree auf den Rest seines Körpers neugierig zu machen.
Sie war aber nicht in der Lage, sich jetzt mit diesen Erinne rungen auseinanderzusetzen.
Und nicht nur das – etwas an dem Haus selbst hatte sie schon damals nervös gemacht. Vielleicht lag das daran, dass ihr Verstand in letzter Minute versucht hatte, ihr mitzuteilen, dass Payton ihr das Herz brechen würde. Vielleicht hatte sie auch eine Grippe ausgebrütet und das Fieber und den Schüttelfrost mit einer unguten Atmosphäre verwechselt. Wie auch immer, wohl hatte sie sich dort nur in Gegenwart von Professor Cianquino gefühlt. Ansonsten war ihr die ganze Umgebung nicht geheuer gewesen. Und wollte sie sich mit dem Professor wirklich über die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden unterhalten, während Erinnerungen an Paytons Lippen, Augen und seine harte muskulöse Brust auf sie eindrangen?
Vielleicht konnte sie dem humpelnden Professor Cianquino helfen, in ihren Wagen zu steigen, und mit ihm zum Lunch irgendwohin fahren. Wenn er schon seit einer Weile ans Haus gefesselt war, würde er
Weitere Kostenlose Bücher