Im Namen der Engel: Die überirdischen Fälle der Bree Winston 1 (German Edition)
Schnitzereien. Ich komme gleich mit dem Wein nach.« Eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke. Seine Augen blickten freundlich und klug drein und hatten überdies einen Ausdruck, den sie noch nie darin wahrgenommen hatte. War es Bedauern? Sie war sich nicht sicher. Und was hätte er bedauern sollen?
Bree holte Teller, Besteck und zwei Weingläser aus dem Schrank. Mit einiger Mühe gelang es ihr, das alles mit dem Essen durch das Wohnzimmer zu tragen. Wenn der Professor seine Wohnung ebenso eingerichtet hätte wie ihre Tante Cissy, die ein Faible für Etageren, Beistelltischchen und Sitzkissen hatte, wäre sie wohl kaum durchs Zimmer gekommen, ohne alles fallen zu lassen. Doch Professor Cianquinos Geschmack war einfacher geartet. Ein cremefarbenes Ledersofa vor dem Kamin. Ein Lesesessel mit einer guten Lampe. Kiefernholzdielen ohne Teppiche. Am hinteren Ende des Wohnzimmers befand sich die zweiflüglige Tür, die zu seinem Arbeitszimmer führte.
Der Weg, den sie zurücklegen musste, war lang. Die Zeit kam ihr elastisch, fast flexibel vor. Ein beunruhigendes Gefühl beschlich sie, eine Steigerung des Unbehagens, das sie seinerzeit in diesem Haus empfunden hatte. Als sie die Tür erreichte, hatte sie den Eindruck, sie wäre unend lich lange unterwegs gewesen.
Es widerstrebte ihr, ins Arbeitszimmer zu gehen.
Sie riss sich zusammen und unterließ es, über die Schulter zu blicken; sie dachte an Professor Cianquinos Gesicht, an die seltsame Mischung aus Kummer und Entschlossenheit, die sich darin widergespiegelt hatte. Dann konzentrierte sie sich ganz auf die Tür. Die Flügel bestanden aus Rosenholz und waren mit einem Muster aus Kugeln verziert, die so kunstvoll geschnitzt waren, dass sie sich im Licht zu drehen schienen.
Solche Kugeln hatte sie schon einmal gesehen. An dem Zaun, der das Haus in der Angelus Street 66 umgab.
Von Neugier gepackt, öffnete sie die Tür und trat ein.
Die Schlichtheit des Wohnzimmers machte das Chaos, das in seinem Arbeitszimmer herrschte, umso überraschender. Verblüfft blieb sie einen Moment stehen und ließ ihren Blick schweifen. Was auch immer sie erwartet haben mochte, dies jedenfalls nicht. Sie hatte das seltsame Gefühl, als komme sie nach Hause. Noch stärker war indes das Bedürfnis davonzurennen.
Ohne so recht zu wissen, wo sie Essen und Geschirr abstellen sollte – und ohne sich darüber im Klaren zu sein, was sie empfand –, zwang sich Bree, weiter ins Zimmer hineinzugehen.
An allen Wänden des Raums zogen sich Bücherregale entlang, die bis zu der dreieinhalb Meter hohen Decke reichten. Und die Regale quollen über. Überall waren Bücher. In Leder gebundene, dann Paperbacks, Hardcovers, dünne Bände, enorm dicke Wälzer – es war überwältigend. Bree fiel eine vollständige Ausgabe des Oxford English Dictionary auf. Darunter standen mehrere Reihen von Büchern, die in gelbbraunes Leder gebunden waren und einen roten Streifen auf dem Rücken hatten. Das eigen artige Gefühl, in zwei verschiedene Richtungen gezogen zu werden, verflüchtigte sich und wich dem Eindruck absoluter Zufriedenheit. Das war eine Bibliothek, und Bibliotheken hatte Bree schon immer geliebt. Vor den Bücherregalen stand ein Ledersessel. Nachdem sie das Geschirr und das Essen auf der Sitzfläche abgestellt hatte, strich sie mit den Händen über die Bücher. Die fetten goldenen Lettern auf den roten Streifen waren ihr vertraut. Offenbar hatte sie eine komplette Ausgabe des Corpus Juris Secundum vor sich. Bree lächelte erfreut. Nur große noble Anwaltskanzleien stellten sich noch die gedruckte Ausgabe des Corpus Juris Secundum ins Regal. Es war viel leichter und vorteilhafter, über Lexis oder einen der anderen Online-Suchdienste juristische Informationen einzuholen.
Bree kicherte in sich hinein. Es war höchste Zeit, Professor Cianquino beizubringen, wie bequem Online-Recherchen waren. Es mochte zwar ganz reizvoll sein, in solchen dicken Büchern herumzublättern, um nach exemplarischen Fällen zu suchen, aber das dauerte ewig. Allein durch die weltweite Suchfunktion sparte man schon Stunden.
Sie blickte sich um und suchte nach einem Platz für den Lunch. Die Mitte des Raums wurde von einem Eichen tisch eingenommen, der mindestens viereinhalb Meter lang war. Er war mit kuriosen Dingen überhäuft – Tontöpfen, einer Waage, einem Stapel Kleidung, die aus altem Sackleinen gefertigt zu sein schien. Sogar eine wuchtige Scheide samt Schwert fand sich dort.
Und mitten auf dem Tisch
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