Im Namen der Engel: Die überirdischen Fälle der Bree Winston 1 (German Edition)
Untote?
Nein.
Bree nahm den blauen Schnellhefter in die Hand und öffnete ihn. Er enthielt Hintergrundinformationen über jemanden namens Liz Overshaw, die – wie Bree beim Durchblättern der Unterlagen klar wurde – nach Skinners Tod die Hauptteilhaberin der Skinner Worldwide, Inc. war. Ha! Nicht nur eine reiche Klientin, sondern eine, die ganz Brees Fall war! Denn mit Körperschaftssteuerrecht kannte sie sich bestens aus. Nachdem sie den Schnellhefter auf den Tisch geworfen hatte, erhob sie sich und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. »Weißt du, worauf ich mich auf der Universität spezialisiert habe?«, sagte sie zu dem Vogel. »Auf …«
» … Körperschaftssteuerrecht«, antwortete der Vogel.
Bree schluckte, holte tief Luft und trat zum Tisch, um sich den Vogel genauer anzusehen. Wie nannte der Professor ihn noch mal? Archie.
»Hey, Archie«, sagte sie.
Der Vogel kniff eines seiner Knopfaugen zusammen und rutschte auf seiner Sitzstange hin und her. Dann pickte er wie wild an einem Stück Tintenfisch herum, das in seinem Käfig hing. Wenn dies tatsächlich ein afrikanischer Graupapagei war, dann unterschied er sich von allen anderen afrikanischen Graupapageien, die sie je gesehen hatte. Er hatte zwar die Größe solcher Papageien, doch sein Gefieder war von zartem Sepiabraun mit schwarzen und goldenen Streifen. Eigentlich ähnelte er auch eher einer Eule. Doch sie wusste (warum sie das wusste, war ihr schleierhaft; sie neigte dazu, sich irgendwo aufgeschnappte Fakten zu merken), dass Eulen nicht sprechen konnten. Überdies gehörten sie im Gegensatz zu landläufigen Ansichten zu den dümmsten Vögeln, die es gab.
»Wer ist dumm?«, fragte Archie und ließ seinen gefährlich aussehenden Schnabel zuschnappen, was sich anhörte, als schnitte eine Sense durch Fleisch.
Bree bemerkte erstens, dass die Tür des Käfigs entfernt worden war, und zweitens, dass Archie fünf Zentimeter lange Krallen hatte. Sie wich zurück. Dann ging sie zur Tür, hielt jedoch inne, als sie Stimmengemurmel dahinter vernahm. Liz Overshaw als erste Klientin zu bekommen, war ein echter Coup. Professor Cianquino hatte sie gebeten zu warten. Also würde sie warten. Sie ging, betont lässig vor sich hinpfeifend, zu den Bücherregalen zurück und gab sich alle Mühe, keine nervösen Blicke über die Schulter zu werfen.
Sie nahm den ersten Band des Corpus Juris Secundum aus dem Regal. Wie wunderbar weich sich das Kalbsleder anfühlte! Nachdem sie mit den Fingern über die erhabenen goldenen Lettern auf dem Buchrücken gefahren war, warf sie einen Blick auf den Titel. Es war gar nicht das Corpus Juris Secundum . Die goldenen Lettern verkündeten klar und deutlich :
CORPUS JURIS ULTIMUM
Letztgültiges, ultimatives Fallrecht?
Ein vertraut wirkendes Exlibris sprang ihr ins Auge, die Nachbildung eines alten Holzschnitts, der einen Mann in mittelalterlicher Kleidung zeigte, mit einer spitzen Mütze auf dem Kopf und einem Federkiel in der Hand. Unter dem Bild standen die Worte :
AUS DER BIBLIOTHEK VON
FRANKLIN WINSTON-BEAUFORT
Diese Bücher hatten Onkel Franklin gehört? Bree fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ihr Onkel war ihr als ein strenger, unnahbarer alter Mann in Erinnerung, der jedem in seiner Umgebung mit ausgesuchter Höflichkeit begegnete. Viele Jahre lang hatte er als Richter am Bezirksgericht amtiert. Sie konnte sich niemanden vorstellen, der weniger zu bizarren Scherzen geneigt hätte.
Vielleicht handelte es sich nur um Fälle, die am Obersten Bundesgericht verhandelt worden waren? Sie schlug die erste Seite des Buches auf und las :
Luzifer vs. Himmlischen Gerichtshof (Jahr 1)
Bree starrte auf die Seite. Was war denn das schon wieder für eine Verrücktheit?
Onkel Franklins Ausgabe des Corpus Juris Ultimum war genauso aufgebaut wie das Corpus Juris Secundum .
Bloß dass die darin aufgeführten Fälle absolut hirnverbrannt waren.
Der Klagegrund im Fall Luzifer vs. Himmlischen Gerichtshof lautete: unrechtmäßige Entlassung. Der Kläger behauptete, mit krasser Voreingenommenheit behandelt worden zu sein, und verlangte, dass eine der sieben Himmlischen Tugenden, die Caritas , zur Anwendung gebracht werde, bei der es sich, wenn Brees Lateinkenntnisse sie nicht trogen, um die höchste Form mitfühlender Liebe handelte. Die Verteidigung legte Luzifer alle sieben Todsünden zur Last, stützte sich aber hauptsächlich – und höchst erfolgreich – auf die Sünde des Hochmuts. Leicht erstaunt überflog Bree die
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