Im Namen der Engel: Die überirdischen Fälle der Bree Winston 1 (German Edition)
lang angesehen hatte, ging er zur Reling und streckte die Hand aus. Das Boot schaukelte auf und nieder, und Bree wartete eine Abwärtsbewegung ab, um seine Hand zu packen und an Bord zu klettern. Da das Schiff sich in dem Augenblick zur Seite neigte, fiel sie gegen ihn und spürte seine harten Brustmuskeln.
»Geht es Ihnen besser?«
»Wie?«
Er zog sie zur Kajüte und öffnete die Tür. Im Innern war vom Tosen des Windes kaum etwas zu hören. Die Sea Mew war ein gut gebautes Boot.
»Ich habe gefragt, ob es Ihnen bessergeht. Sie sehen nicht sehr gut aus, wenn ich das mal so offen sagen darf.«
Bree legte sich sofort die Hand an die Stirn. »Nein?«
Sanft berührte er ihre Wange. »Sieht so aus, als hätten Sie nicht viel geschlafen.«
Sie trat zurück, und seine Hand sank herab. »Offenbar hatten wir beide die gleiche Idee. Oder sind Sie offziell hier?«
»Nein.«
Sie ging in der kleinen Kajüte umher und spähte durch die regennassen Fenster aufs Deck hinaus. Sie war sich nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte – oder worauf sie wartete. Eine Redewendung ihrer Tante Cissy fasste treffend zusammen, was sie empfand: Sie war so nervös wie eine langschwänzige Katze in einem Zimmer voller Schaukelstühle.
Sam stand hinter ihr. Sie spürte den Hauch seines Atems am Ohr. »Skinner senior saß mit dem Rücken zum Meer am Bug. Jennifer stand am Steuer. Grainger sagt, er sei gerade hier drin gewesen, um eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen, als er sah, wie sich sein Vater an die Brust fasste und über Bord fiel.«
»Worauf Grainger nach draußen stürzte, seiner Frau zurief beizudrehen, et cetera, et cetera«, sagte Bree.
»Sie haben den Polizeibericht gelesen. Ich wüsste zu gern, wie Sie vor dem Abschluss der Untersuchung an den gekommen sind.«
Sie beugte sich ein wenig zurück und sah zu ihm hoch. »Wir Rechtsanwälte haben da so unsere Tricks.«
Eine Weile blickten seine kupferfarbenen Augen in die ihren. »Tja«, meinte er schließlich und trat zurück. Der Moment war vorüber – falls es ihn tatsächlich gegeben hatte und er nicht nur ein Produkt ihrer hoffnungsvollen Phantasie gewesen war. »Fällt Ihnen irgendetwas auf, das wir übersehen haben könnten?«
Bree schüttelte den Kopf, doch dann sagte sie: »Augenblick mal. Was ist das da unten am Deck?«
»Was meinen Sie?«
Sie drängte sich an ihm vorbei und trat in den Wind hinaus. »Das hier!«, rief sie. »Diese Krampen da, die am
Deck festgemacht sind! Ich wüsste nicht, wozu die auf einem solchen Boot dienen sollten.«
»Um Angelleinen zu befestigen?«
Sie verdrehte die Augen und kniete sich hin, um die fünf Zentimeter hohen und etwa zweieinhalb Zentimeter breiten Krampen näher zu untersuchen. Sie waren in Abständen von sechzig Zentimetern ans Deck geschraubt und zogen sich vom Steuer bis zum Sitz am Bug. Oberhalb des Sitzes war links und rechts ein Ring aus galva nisiertem Stahl an der Schiffswand befestigt. Bree kannte diesen Jachttyp. Sie legte die Hand auf den gepolsterten Sitz.
Nichts.
Sie schloss die Augen. Obwohl sie sich unendlich albern vorkam, versuchte sie, sich Skinners Gesicht vorzustellen, das sie im Fernsehen gesehen hatte.
Kein Mucks. Wenn Skinners Geist tatsächlich an dem Ort verweilte, an dem er gestorben war, dann war er jedenfalls nicht hier gestorben. Sie öffnete die Augen und wandte sich Hunter zu. »Ich weiß, wie sie es gemacht haben.«
»Wie sie was gemacht haben?«
»Wie sie sich der Leiche entledigt haben. Sehen Sie diese Ringe da? Sie haben ihn am Sitz festgebunden. Und im richtigen Moment – wahrscheinlich, als sie sicher waren, dass sie einen Zeugen hatten – haben sie an den Leinen gezogen, sodass die Leiche über Bord fiel.« Sie schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte über Sams Schulter zu dem Betonklotz namens Island Dream hinüber. »Also ist er nicht hier gestorben.«
Er stieß ein Schnauben aus. Bree machte ein finsteres Gesicht und fragte mit eisiger Stimme: »Habe ich was Komi sches gesagt?«
»Spekulationen sind nicht zulässig.«
»Dann sollten wir nach konkreten Beweisen suchen, nicht wahr?«
» Jetzt hab ich’s kapiert.«
»Was denn?«
»Wenn Sie gereizt sind, bricht die Südstaatlerin in Ihnen durch.«
Bree lächelte honigsüß. »Also, Lieutenant, wie steht’s denn nun mit der Suche nach Beweisen?«
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ein Regenschauer fegte über das Deck. Er blickte zum Himmel hoch, der noch düsterer wirkte als zuvor.
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