Im Namen der Engel
mist gepflastert waren und die schrillen Rufe der Sklavenhändler die Luft erfüllten. Das Gebäude stand mitten auf einem kleinen Friedhof mit ungepfleg ten Gräbern. Der allgemeine Eindruck von Verfall und Schmutz würde nach Brees Dafürhalten gewiss jeden interessierten Mieter abschrecken. Von Klienten ganz zu schweigen! Ein schmiedeeiserner Zaun umgab das Grundstück, was in einer Stadt, wo jedes Haus im histo rischen Stadtkern eine solche Begrenzung hatte, auch kaum anders zu erwarten war. Im Gegensatz zu den sonst üblichen Magnolien- oder Efeublättern bestand das Muster dieses Zauns jedoch aus Kugeln, die so kunstvoll gearbeitet waren, dass sie sich im Sonnenlicht zu drehen schienen.
Das Haus war mit rissigen, schmutzigen Schindeln verschalt, die dringend einen neuen Anstrich brauchten. Das Dach war jedoch intakt (oder schien es zumindest zu sein), die Fenster- und Türrahmen wirkten solide. Vielleicht war das Interieur gar nicht so vergammelt, wie sie befürchtete.
Bree stützte Mrs. Mathers Arm mit der Hand, während die beiden Frauen die Stufen aus bröckeligem Ziegelstein hinaufgingen, die zur Haustür führten. Nachdem die alte Dame erfolgreich mit dem Schlüssel he rumhantiert hatte, folgte ihr Bree in die Eingangshalle, wo sie unversehens mit einer wahren Farbenpracht konfrontiert wurde.
»Ist ja nicht zu fassen!«, stieß sie, vor Überraschung alle Höflichkeit vergessend, hervor. Rasch biss sie sich auf die Lippe. »Entschuldigen Sie bitte vielmals, Mrs. Mather.«
Entweder Mrs. Mather war ein wenig schwerhörig, oder sie zog es taktvollerweise vor, Brees Ausbruch zu igno rieren. Sie standen in einer kleinen Eingangshalle mit glänzend poliertem Fußboden aus Kiefernholz. Rechts führte eine steile Treppe in den ersten Stock. Die Vorderseiten der Stufen waren in leuchtenden Farben mit mittelalterlichen Engeln bemalt, deren karmesinrote Gewänder von purpurfarbenen Bändern durchzogen wurden. Hinter den Köpfen waren goldene Heiligenscheine zu sehen, die wie halb aufgegangene Sonnen wirkten. Silbrig-goldenes Haar floss über ihre Schultern und ergoss sich bis zu den Füßen, die in Stiefeln steckten. Die imposante Parade der Engel zog sich die ganze Treppe hoch bis zum Zwischenpodest, wo sie eine Biegung machte. Bree verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, auch noch den Rest des Frieses zu sehen. Der Kontrast zwischen den Räumen innen und dem Verfall da draußen war einfach erstaunlich. Sie war die Treppe schon zur Hälfte hochgestiegen, als Mrs. Mathers Stimme sie wieder zur Vernunft brachte.
»Kommen Sie ins Wohnzimmer, Schätzchen.«
Widerstrebend verließ Bree die wunderschöne Treppe und ging durch die Eingangshalle in ein kleines, unmöbliertes Wohnzimmer. In die hintere Wand war ein offener Kamin aus weiß getünchten Ziegelsteinen eingelassen. Die Wände waren mit wundervoll poliertem Eichenholz getäfelt.
»Passen Sie auf Ihren Kopf auf«, warnte Lavinia Bree, als diese ihr ins Wohnzimmer folgte.
Die Decken waren genauso niedrig wie in Brees Zuhause in Raleigh. Obwohl, wie Bree ein wenig weh mütig durch den Kopf ging, auf Plessey nur die ehemaligen Dienstbotenzimmer im zweiten Stock so klein waren wie dieser Raum hier. Und die wurden nicht mehr benutzt.
Das Wohnzimmer war etwa viereinhalb mal viereinhalb Meter groß. Die eine Wand wurde von einem offenen Kamin mit einem Sims im Stil von Adams eingenommen. Die Außenwand hatte nur ein Fenster, hinter dem sich dichtes Unkraut drängte. In der Wand gegenüber dem Fenster befand sich eine geschlossene Tür, links und rechts davon ein Durchgang, der jeweils in ein winziges Zimmer führte.
»Die Küche ist da links«, erklärte Lavinia munter, »und jenseits des Durchgangs auf der anderen Seite dieser Tür befindet sich ein hübsches kleines Esszimmer. Diese Tür dort geht zum Schlafzimmer.« Sie öffnete die Tür zu einem Raum, in dem man außer einem Bett und einer Kommode nicht viel mehr würde unterbringen können. »Dieses Zimmer könnten Sie vielleicht zu Ihrem Büro machen. Und die Sekretärin ins Wohnzimmer setzen – und das Esszimmer für Besprechungen benutzen.«
Bree ging in dem kleinen leeren Raum umher und blieb vor dem Fenster stehen, von dem aus man direkt auf die bemoosten Grabsteine blickte. Die Erde vor den Grabsteinen war abgesunken. Seinerzeit hatte Bree an der Duke University auch einen Kurs in forensischer Medizin absolviert; Leichen, die nicht eingesargt waren, verwesten so schnell, dass die obere
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