Verflixter Kerl
Kapitel 1
Es war ein grauer Tag und viel zu kalt für den Sommer. Die Wogen schlugen mit zorniger Heftigkeit an den Strand und liefen mit jedem Mal ein Stückchen weiter den feuchten Sand hinauf, immer näher an den krummen Saum aus trockenem Tang, Muscheln und diversem Strandgut. Es war auflaufende Flut, und spätestens in einer Stunde würde das Wasser den Saum erreicht haben oder ihn noch ein Stück weiter den Strand hinauf treiben. Von See her wehte ein scharfer Wind, der nach Salz und Fernweh roch. Feine Gischt oder Nieselregen trieb vor ihm her. In der Ferne blinkte ein Licht über dem grauen Wasser durch den Dunst. Das musste das Leuchtfeuer von Wittdün auf der Nachbarinsel Amrum sein.
Schräg zum Wind stapfte eine Frauengestalt durch den festen Sand dicht vor dem Flutsaum. Sie trug einen winddichten, modischen Trekking-Anorak mit Kapuze, doch deren Möglichkeit nutzte sie nicht. Sie hatte statt dessen die Ränder einer dunkelblauen Schiffermütze weit in die Stirn und über beide Ohren gezogen und das schlichte, halblange Blondhaar unter die Ränder gestopft, so dass ihr Gesicht von Weitem wie ein Oval wirkte, im frühen Morgenlicht ein helles schmales Etwas, das im oberen Drittel dunkelblau war.
Man merkte ihr an, dass sie eine erfahrene Strandgängerin war. Ihr Weg war eine Zickzack-Linie, wie der eines Segelschiffes, das vor der Küste kreuzt. Wenn sie dem Wind entgegen ging, beugte Silke Schönbohm sich vor, stemmte sich hinein, schob trotzig den Sand unter ihren Füßen hinweg. Das tat ihr gut; es half ihr, die Wut zu bewältigen, die sich immer wieder in ihre Gedanken schob. Dabei war sie nach Föhr gekommen, um zu vergessen! Aber es tat gut, dem Wind zu trotzen. Genau so wollte sie dem Schicksal trotzen, das ihr übel mitgespielt hatte. Je länger sie hier war, wurde aus dem Schicksalsschlag ein bloßer Streich, der sich wohl verkraften ließ. Das Seeklima und das geruhsame Leben auf der Insel sorgten dafür, dass Silke mittlerweile alles etwas gelassener sehen konnte.
Sie war nahe ans Wasser geraten und lenkte ihren Schritt jetzt wieder dem oberen Teil des Strandes zu, so dass der Wind schräg von hinten kam, als wollte er sie in die Arme nehmen wie ein Liebhaber. Gleich hatte sie das Gefühl, als würde ihr wärmer. Sie passierte das Schild "Nacktbadestrand", das selten jemand beachtete – allenfalls ließen sich gelegentlich Urlauber neben diesem Schild fotografieren. Voll bekleidet, versteht sich.
Silke Schönbohm verspürte Appetit. Ihr Frühstück stand in der kleinen Privatpension bestimmt schon auf dem Tisch. Sie überlegte, ob sie weiter über den Südstrand und die Promenade gehen sollte, um dann irgendwo nach links in den Ort abzubiegen, oder ob sie von hier aus quer durch Wyk zu ihrer Pension gehen sollte, die in der Badestraße lag. Sie entschied sich für die erste Variante, das war nicht so öde.
Fast zwei Jahre war es jetzt her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war, nur zu einem langen Wochenende. Oliver hatte einen stressigen Beruf – damals hatte sie noch keine Ahnung gehabt, dass er verheiratet war, der Herr Ingenieur und Sunnyboy. Sie hatte ihn in einer Hamburger Diskothek kennengelernt, kein Teenie-Schuppen, sondern ein ziemlich seriöser Laden nicht weit vom Gänsemarkt, wo man auch mit fünfundzwanzig noch immer willkommen war. Er war schon Anfang Dreißig.
Seine Aufmerksamkeit hatte ihr geschmeichelt, der kleinen Schulsekretärin einer Gesamtschule mitten in Barmbek. Dass sich ein Ingenieur für sie interessierte, der eine große Nummer auf einer bekannten Werft war und zudem aus altem hanseatischem Geldadel stammte, hatte ihr sehr geschmeichelt, und erst hatte sie gar nicht gewagt, sich richtig in ihn zu verlieben. Ach, dabei war es doch schon längst passiert!
Er war ihr Traummann gewesen, von Anfang an. Groß, breitschultrig, mit markantem Gesicht, welligem blondem Haar und einem Akzent, wie man ihn nur in ersten Kreisen in Hamburg sprach. Was hatte er in einer Diskothek zu suchen, wo er allein schon durch seine edle Kleidung auffiel?
"Ein kleines Abenteuer", hatte er mit diesem jungenhaft breiten, geschwungenen Lächeln zugegeben. Bei seinem stressigen Beruf, durch den er häufig abwesend sein müsse, könne er keine feste Beziehung eingehen. An seiner Seite müsste eine Frau einfach einsam bleiben, und das wolle er niemandem ernsthaft zumuten. Also lief es bei ihm immer nur auf den Flirt für einen Abend hinaus. Dabei sehnte er sich natürlich nach einer
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