Im Namen Des Schweins
sechs Jahre alter Junge. Er sitzt vorne auf der Kante der Sitzfläche. Sein Gesicht ist auf das Bellini-Bild gerichtet, die Augen sind geschlossen und die Lippen bewegen sich nahezu unmerklich. Er sitzt seit über einer Stunde in dieser Haltung da. Kurz darauf geht die Tür auf der linken Seite auf. Ein gelber Lichtstrahl fällt herein. Der Junge schaut dorthin. Seine Augen sind mittlerweile weit geöffnet. Eine große Silhouette, deren Gesicht durch das Gegenlicht nicht gut zu erkennen ist, zeichnet sich im Türrahmen ab. Die Gestalt wirft einen Schatten auf den Teppich. Der Mann macht eine Handbewegung, um dem Jungen zu zeigen, dass er in das Büro kommen möge. Der Junge trocknet sich die verschwitzten Händchen am Schulrock ab und folgt eilig den Anweisungen. Er geht hinein. Die knochige Hand der Silhouette schließt geräuschlos die Tür.
»Warum zeigst Du mir das?«, fragt P.
T lacht, Spaßvogel: »Uuuhhu: Ich bin der Geist aus der Weihnacht der Vergangenheit …« Dann klingt seine Stimme ernster: »Du wirst schon sehen: Alles ist eine Frage der Reihenfolge. Es macht Sinn, von vorne anzufangen. In diesen Tagen damals waren wir noch eins: Du und ich.«
»Daran mag ich mich nicht erinnern …«
»Das war der Anfang unserer Entzweiung, wie Du sicher weißt. Dort hast Du gelernt, mich zu vergessen.
Während ich mich seitdem daran und an allem, was danach kam, abarbeite, konntest Du Dir eine Fantasie vom gerechten Helden aufbauen und so zum Jäger von Psychopathen werden.«
»Du wärest überrascht, wie wenig ich davon verdrängt habe. Ich kann mich an alles erinnern.«
»Ja, ja … Mal sehen, ob Du Dich auch daran erinnerst.«
T gibt dem Spuk hinten im großen Raum ein Zeichen, abermals leuchtet es auf und man sieht einen Teil der 33. Straße in Manhattan. Im Hintergrund ist der Sockel des Empire State Buildings zu sehen. Ein weißer Mann im Sweatshirt bleibt vor T stehen und fragt ihn nach der Uhrzeit. Sie wechseln ein paar Worte, die unerfreulich zu sein scheinen. T packt ihn sofort am Arm und schleudert ihn im Stil eines Hammerwerfers um die eigene Achse. Er lässt den Griff gezielt so los, dass er rückwärts in die fast undurchdringliche Dunkelheit unter dem Gerüst stolpert. T hüpft wie ein Boxer mit kleinen Sprüngen auf ihn zu und donnert ihm mit der Rechten gegen den Unterkiefer. Der Typ hockt mit verzerrtem Gesicht total groggy am Boden, während T ihm das Sweatshirt auszieht. Der Typ versucht – jetzt wie ein frisch geborenes Hirschkalb –, erneut aufzustehen. Aber sobald es ihm halbwegs gelingt, sich mit einem Bein auf den Boden zu knien, tritt T ihm mit der Ferse gegen den Backenknochen. Man hört ein tiefes »Oh«, bevor er endgültig zusammenbricht.
»Kommt Dir das Sweatshirt bekannt vor?«, fragt T, der im Stuhl sitzt, P, der im anderen Stuhl sitzt. P schaut auf das Sweatshirt, das er gerade anhat. Die Tasche ist in der Mitte und die blauen Buchstaben NY sind auch da. Er ist sprachlos.
»Das war ich gar nicht«, sagt er.
»Ach, nein? Und woher, meinst du, kommt dieses Déjàvu-Gefühl? Du möchtest wohl lieber weiter daran glauben, dass so ein Sweatshirt wie durch Zauberhand in Deinem Hotelzimmerschrank auftaucht, was? So wie die zwei Taubstummen heute Abend.«
»Das war ich nicht«, wiederholt P.
»Okay, vielleicht war’s ja auch ich. Aber dann verrate mir mal, wer das hier ist …«
T macht wieder ein Zeichen für den hinteren Teil des großen Raums. Diesmal ist ein schmales Bett zu sehen. P kniet in Unterhose auf der Matratze und bearbeitet ein nacktes Mädchen, deren Gesicht unter den rotblonden Haaren verborgen ist, die zerzaust herabfallen. Sie versucht ihr Gesicht wegzudrehen und schreit, aber P versetzt ihr mit der Faust einen Schlag in den Bauch, der sie sofort zum Schweigen bringt und dafür sorgt, dass sie die Hände vom Gesicht nimmt und auf die schmerzende Stelle legt. Ihr Gesicht, auf dem eine Mischung aus Schmerz und Panik zu lesen ist, liegt dadurch ungeschützt vor ihm und bekommt eine Gerade auf die Nasenscheidewand versetzt. Der Kopf fliegt gegen die Wand und bringt das winzige Zimmer zum Beben. Ihr nackter Körper liegt leblos da. T stößt den Körper zur Seite. Sie fällt vom Bett auf den Boden. Aus der Nase fließt Blut, und die Beine sind auf groteske Weise gespreizt.
P sitzt in dem großen Zimmer und kann es nicht mit ansehen. Er weiß jetzt schon, was sich in dem winzigen Zimmerchen abspielen wird: Er will sich nicht selbst dabei zusehen, wie er den
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