Im Rausch der Ballnacht
einen nachmittäglichen Einkaufsbummel in der Stadt zu unternehmen.
“Du kannst dich nicht immer verstecken, und das Schlimmste ist vorbei”, sagte sie, als sie gemeinsam die High Street hinunterschlenderten. Beide Schwestern trugen bestickte weiße Kleider und seidene Pelerinen. Der Kinderwagen mit Ned wurde von Rosie geschoben.
“Sie sehen mich an, als wäre ich eine Hure”, sagte Lizzie und presste ihr Retikül an sich. Der Morgen war noch wunderschön gewesen, aber jetzt wurde das Wetter windig und grau, und Regenwolken sammelten sich am Himmel. Es war ihr egal. In ihrem Leben war das Unterste zuoberst gekehrt worden, und sie hätte gern wieder alles gerichtet. Sie hasste es, so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und einen Skandal verursacht zu haben. “Ich
fühle
mich schon beinah wie eine Hure.”
“Aber du bist keine!”, rief Georgie. “Diese Frauen kennen dich schon dein ganzes Leben lang, und sie wissen, wie gut du bist. Ich habe gehört, wie jemand sagte, dass du sicher verführt wurdest – dass du verliebt warst. Vermutlich sind sie einfach schockiert, dass ihrer schüchternen kleinen Lizzie so etwas passieren konnte.” Georgie lächelte ihr zu. “Sie werden darüber hinwegkommen. Kein Skandal dauert ewig.”
Lizzie bezweifelte, dass sie diesen überstehen und auch nur einer ihrer früheren Freunde jemals wieder zu ihren Bekannten zählen würde. Selbst jetzt, als sie an den Geschäften vorübergingen, die die High Street säumten, bemerkten die Ladenbesitzer sie, und Lizzie wusste, dass man über sie redete. “Ich weiß nicht, ob ich hierbleiben sollte, Georgie”, sagte sie schließlich. “Vielleicht wäre es besser für Papa und Mama, wenn ich fortgehe.” Noch immer fürchtete sie, im Hause ihrer Tante nicht willkommen zu sein, wenn sie Raven Hall verlassen müsste.
“Unsinn! Mama macht wie immer ein Drama aus allem. Papa ist zwar traurig, aber er wird sich erholen, denn du warst immer sein Liebling. Lizzie, die Zeit heilt alle Wunden. Wir werden das überstehen”, sagte Georgie, nahm ihre Hand und drückte sie fest. “Ich verspreche es dir.”
“Wenigstens redet er mit mir”, sagte Lizzie. Sie fragte sich, ob Papa sie jemals wieder so lieben würde, wie er es einst getan hatte, so vollkommen und mit absolutem Vertrauen.
Plötzlich blieb Georgie stehen.
Lizzie war so sehr in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht auf die anderen Fußgänger geachtet hatte. Jetzt folgte sie der Blickrichtung ihrer Schwester.
Tyrell der Warenne kam auf sie zu.
Er war noch einen halben Block weit entfernt, aber seine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt war unübersehbar. Selbst jetzt, nach anderthalb Jahren, hätte Lizzie ihn überall wiedererkannt. Er war zu Fuß unterwegs und in Begleitung eines anderen Gentleman. Sie schienen in ein Gespräch vertieft, und er hatte sie noch nicht bemerkt.
Voller Panik drehte Lizzie sich um. “Rosie! Nimm Ned mit zum Bäcker, und komm nicht heraus!”, rief sie entsetzt. Ihre Angst war grenzenlos. So oft hatte sie sich eingeredet, dass es vollkommen unwahrscheinlich war, Tyrell hier zu begegnen, wenn er sich doch so häufig in Dublin aufhielt. Aber jetzt war er hier, nur wenige Schritte von ihr entfernt!
Rosie erbleichte. Wortlos machte sie kehrt und wandte sich mit dem Kinderwagen dem Bäckerladen zu.
Es war Lizzie unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte Tyrell den Rücken zugekehrt und hoffte, er würde die Straße überqueren oder in die Bierschänke gehen, die im selben Block lag. Doch noch während sie das dachte, sah sie sein schönes, dunkles Gesicht vor sich, seine glänzenden Augen, seinen muskulösen Körper. Ihr wurde heiß, und sie schloss die Augen, doch das Bild blieb, wo es war. Es war so lange her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte.
“Oh! Sie kommen hierher! Ich glaube, sie kommen direkt auf uns zu!”, rief Georgie ungläubig.
“Das kann nicht sein”, stieß Lizzie hervor.
Und da hörte sie eine vertraute Stimme rufen: “Lizzie? Lizzie? Bist du das?”
Das ist Rory McBane
. Ungläubig wandte Lizzie sich um, begegnete seinem freundlichen Blick und wagte es nicht, den Mann in seiner Begleitung anzusehen.
“Du bist es!”, rief er. Ganz offensichtlich freute er sich. Nachdem er Georgie einen raschen Blick zugeworfen hatte, wandte er sich wieder Lizzie zu und verneigte sich tief. “Aber ich vergaß, du wohnst ja hier in Limerick. Aus irgendeinem Grund dachte ich, du würdest bei Tante Eleanor
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