Im Reich des Wolfes
wieder den hoch aufgeschossenen, dunkelhaarigen Jungen mit den violetten Augen, der hinter seinem Vater auf den Feldern arbeitete, die Saat pflanzte, die Ernte einbrachte. Es waren schöne Tage, auch wenn er es damals noch nicht wußte. Gemieden von den anderen lungen des Dorfes, hatte Ekodas keine Freunde und niemanden, mit dem er die kleinen Freuden, seine Entdeckungen, teilen konnte. Aber jetzt, als er in der Hymne schwebte, sah er die Liebe, die seine Eltern ihm schenkten, trotz ihrer Angst vor seiner Gabe. Er spürte die warmen Umarmungen seiner Mutter, die schwielige Hand des Vaters, der ihm die Haare zauste.
Und die Hymne hatte eine solche Macht, daß er sogar ohne Haß sehen konnte, wie die vagrischen Soldaten sein Zuhause angriffen. Er konnte die Axt sehen, die seinem Vater den Schädel spaltete, das zustoßende Messer, das seiner Mutter das Leben raubte. Er war in der Scheune gewesen, als die Vagrier kamen. Seine Eltern waren in der ersten Minute des Überfalls getötet worden. Ekodas war vom Heuboden gesprungen und auf die Soldaten zugelaufen. Einer drehte sich um und holte mit seinem Schwert aus. Es traf den Jungen an Schulter und Hals, glitt ab und ritzte ihm die Schläfe auf.
Als er erwachte, war er der einzige lebende Drenai im Umkreis vieler Kilometer. Die Vagrier hatten selbst das Vieh abgeschlachtet. Alle Gebäude brannten, und eine dichte Rauchwolke hing über dem Land. Am dritten Tag nach dem Überfall wanderte Ekodas die drei Kilometer zum Dorf. Überall lagen Tote, und obgleich der Rauch sich inzwischen verzogen hatte, kreisten Scharen von Krähen am Himmel. Er sammelte, was er an Lebensmitteln noch finden konnte - ein halb verkohltes Stück Schinken, einen kleinen Sack mit Haferflocken -, und fand eine Schaufel, die er mit nach Hause nahm, wo er ein tiefes Grab für seine Eltern aushob.
Ein Jahr lang hatte er allein gelebt, Korn gesammelt, eßbare Wurzeln und Blumen, aus denen er eine Suppe kochen konnte. In diesem Jahr sah er keinen Menschen. Am Tag arbeitete er. Des Nachts träumte er, träumte davon, durch den Nachthimmel zu fliegen, über den Bergen im reinen Licht der Sterne zu schweben. Wundervolle Träume!
Eines Nachts, als er kreiste und schwebte, war eine dunkle Gestalt vor ihm erschienen. Sie hatte das Gesicht eines Mannes, schwarzes Haar, das dicht am Schädel klebte, schräggestellte Augen und lange, geflochtene Koteletten, die ihm bis auf die Schultern hingen.
»Woher kommst du, Junge?« fragte der Mann.
Ekodas hatte Angst bekommen. Er wich zurück, doch das Gesicht schwoll an, und ein Körper erschien. Lange Arme streckten sich nach ihm aus. Die Hände waren mit Schuppen und Klauen bewehrt, und Ekodas floh. Andere dunkle Gestalten tauchten auf, wie die
Krähen über dem Dorf, und sie riefen nach ihm. Weit unten sah er die kleine Schutzhütte, die er aus den unverbrannten Balken der Scheune für sich gezimmert hatte. Hinab, hinab floh er, vereinte sich mit seinem Körper und erwachte schlagartig, mit wild klopfendem Herzen. In dem Augenblick zwischen Traum und Erwachen war er sicher, ein triumphierendes Gelächter gehört zu haben.
Zwei Tage später kam ein Reisender vorbei, ein schlanker Mann mit sanftem Gesicht. Er ging langsam, und als er sich setzte, zuckte er vor Schmerz zusammen, denn er hatte eine frisch vernähte Wunde am Rücken.
»Guten Morgen, Ekodas«, hatte er gesagt. »Ich bin Dardalion. Du mußt diesen Ort verlassen.«
»Warum? Es ist mein Zuhause.«
»Ich glaube, du weißt, warum. Zhu Chao hat deinen Geist schweben gesehen. Er wird Männer schicken, die dich zu ihm bringen sollen.«
»Warum sollte ich dir trauen?«
Der Mann lächelte und streckte die Hand aus. »Du hast das Talent, die Gabe der QUELLE. Berühre mich. Sieh, ob du einen Funken Böses finden kannst.«
Ekodas faßte die Hand, und in derselben Sekunde flössen Dardalions Erinnerungen durch ihn ... die große Belagerung von Purdol, die Kämpfe mit der Bruderschaft, die Reise mit Waylander, die entsetzlichen Erinnerungen an Blutvergießen und Tod.
»Ich komme mit dir, Herr.«
»Du wirst nicht allein sein, mein Junge. Bis jetzt gibt es neun wie dich. Es werden noch mehr.«
»Wie viele mehr?«
»Wir werden dreißig sein.«
Die Gebetshymne endete. Ekodas spürte die Kälte der Trennung, wurde sich seiner Muskeln und Sehnen bewußt, spürte die kalte Brise, die durchs offene Fenster drang und seine nackten Beine streifte. Er schauderte und öffnete die Augen.
Dardalion stand auf. Ekodas
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