Wild und frei
1. KAPITEL
Cornwall
10. Juni 1573
Mistress Rowena Thornhill drängte sich besorgt gegen das Turmfenster. Ihr Rock aus einfachem Wollstoff bauschte sich hinter ihr auf dem engen Treppenabsatz. Einen Augenblick lang sah sie angestrengt durch die in Blei gefassten Fensterscheiben hinaus auf die dahinter liegende Welt. Dann jedoch, ungeduldig wegen der eingeschränkten Sicht, entriegelte sie den Flügel des dunklen Holzrahmens und riss das Fenster weit auf, sodass der Seewind hereinströmen konnte.
Als sie sich über die steinerne Fensterbank hinauslehnte, prickelte die salzige Brise auf ihrem Gesicht, und einzelne Strähnen lösten sich aus ihrem streng zusammengebundenen kastanienbraunen Haar und flatterten im Wind. Jenseits des Hofes erstreckte sich, so weit das Auge reichte, das hügelige Moorland nach allen Seiten mit großen Flächen von blühendem Stechginster und Riedgras und endete im Süden zwischen den felsigen Klippen, wo Seevögel schrien und über den Brandungswellen kreisten.
Durch das Land zwischen den Klippen und dem weitläufigen alten Herrenhaus schlängelte sich eine schmale Straße, die im Laufe der Jahrhunderte von vorbeiziehenden Karren und Wagen fast bis zur Höhe der Radnaben ausgefahren war. Auf diese Straße richtete Rowena ihren besorgten Blick und reckte sich aus dem Fenster, um die Stelle sehen zu können, an der sie hinter dem östlichen Horizont verschwand.
Kein Pferd. Kein Reiter. Nichts. Und in weniger als einer Stunde würde die Sonne untergehen.
Ihr Vater reiste oft nach Falmouth. Als Wissenschaftler liebte er es, im Hafen umherzuschlendern und von den Seeleuten “Kuriositäten”, wie er sie nannte, zu kaufen – etwa einen Affen oder Papagei, vielleicht auch eine ungewöhnliche Muschel oder ein merkwürdiges Meerestier, das man aus der Tiefsee geholt und in Salzlake konserviert hatte. Ein jedes dieser Dinge brachte er dann nach Hause in sein Laboratorium, in dem er Tage und manchmal Wochen damit verbrachte, seine neue Beute zu sezieren und zu untersuchen sowie seine ledergebundenen Notizbücher mit zahlreichen Aufzeichnungen zu füllen.
In seiner Jugend hatten diese Schriften Sir Christopher Thornhills Ruf begründet, einer der führenden Gelehrten Englands zu sein. Aber jetzt wurde er alt, zu alt, um allein auf der langen, gefährlichen Straße zu reisen. Nächstes Mal, beschloss Rowena, würde sie darauf bestehen, dass er einen der Stallburschen mitnahm, oder ihn selbst begleiten, trotz seiner Bedenken, dass das von Menschen wimmelnde Hafenviertel kein Platz für eine Dame sei.
Sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen, während sie mit dem schweren Schlüsselbund spielte, der an einer Kordel von ihrer schlanken Taille herabhing.
Rowena ertappte sich dabei, darüber nachzudenken, wie sie das Leben meistern würde, wenn ihr Vater nicht mehr da wäre. In den siebzehn Jahren seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie ihre Tage damit verbracht, den Haushalt zu führen, die Dienstboten zu leiten sowie ihrem Vater im Laboratorium zu helfen. Dieses baufällige alte Herrenhaus und das Werk ihres Vaters waren ihr ganzer Lebensinhalt gewesen. Aber jetzt war er fast siebzig, und an seinen herabhängenden Schultern und dem leichten Zittern seiner Hände konnte sie erste Anzeichen nahender Gebrechlichkeit erkennen. Was würde sie tun, wenn das Laboratorium leer und verwaist wäre?
Heirat?
Ein ironisches kleines Lächeln spielte um ihren zu großen Mund. Wer außer einem alten Trunkenbold würde sie haben wollen? Eine ältliche Jungfer von zweiunddreißig Jahren, schüchtern und groß wie ein Mann, mit einem langen, schmalen Gesicht, welches sie immer an ein Pferd erinnert hatte. Selbst mit den Lockmitteln Haus und Landbesitz waren die Chancen, einen akzeptablen Ehemann zu finden, kaum der Rede wert.
Sie würde natürlich die wissenschaftliche Arbeit ihres Vaters fortführen, aber wer würde ihre Forschungen ernst nehmen? Wer würde das Gekritzel von jemand lesen, der nur eine Frau war, einmal ganz zu schweigen davon, ihm Wert und Gewicht beizumessen?
Rowenas Blick wanderte zur See, wo Sturmvögel und Dreizehenmöwen über den Klippen ihre Kreise drehten. Hoch über ihnen segelte ein einzelner Albatros im Wind, seine ausgestreckten Flügel waren dabei so unbeweglich, als wären sie aus weißem Marmor gemeißelt. Was hatte wohl diesen seltenen Besucher hierhergeführt?
Während sie dem Flug dieses Vogels zusah, wurde Rowena von einer so starken Sehnsucht ergriffen, dass sich ihre
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