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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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mein Kopf. Vermutlich dienten die Stoffbahnen dazu, Felder voneinander abzugrenzen.
    Dann traf mich eine plötzliche Erkenntnis. Dies waren Räume, Riesen-Räume. Als mir das klar wurde, schien sich um mich herum alles zu verändern. Die Bäume, Stoffbahnen und Planen, all das schien auf einmal zu verschwinden. Eine gewaltige Stadt nahm ihren Platz ein, mit abgegrenzten Feldern und Gärten, mit Straßen, öffentlichen Plätzen und privaten Bereichen, in denen Riesen ungestört sein konnten.
    Die ganze Zeit über hatte ich nach einem Ort gesucht, in dem die Riesen lebten, ohne zu ahnen, dass wir ihn längst erreicht hatten.
    Während ich noch staunte, näherten sich weitere Riesen, und Gebrüll hallte durch den Wald, verkündete die Nachricht von unserer Ankunft. Auch die anderen Riesen waren freundlich und schienen sich sehr über das Wiedersehen mit Salzleck zu freuen. Ich empfand so viele große Geschöpfe in meiner Nähe als beängstigend, und Estrada und ich blieben ein wenig zurück. Dass wir am Ziel waren, merkte ich erst, als der Wall aus Beinen vor uns verharrte und ich fast mit dem Kopf gegen einen Oberschenkel gestoßen wäre.
    Jetzt erkannte ich den Zweck der Stoffbahnen. Wir befanden uns im Äquivalent eines runden Saals, mit Straßen, die wie die Speichen eines Rads davon ausgingen. In diesem Saal wimmelte es von Riesen. Mindestens hundert mussten es sein, und alle sprachen aufgeregt miteinander. Zwar war ich mir in Hinsicht auf ihre Anatomie noch nicht ganz sicher, glaubte aber, dass es sich bei den meisten von ihnen um Frauen handelte. Die wenigen Riesen männlichen Geschlechts überragten mich kaum, und ich nahm an, dass es Kinder waren. Moaradrid schien nur erwachsene Männer für sein Heer rekrutiert zu haben, vielleicht ein Zeichen seiner Gnade; oder er hatte die Kinder verschont, weil er plante, sie bei zukünftigen Feldzügen einzusetzen.
    Die fahnenartigen Stoffbahnen waren hier mit besonders komplexen und bunten Mustern verziert, und ich dachte zuerst, dass wir vielleicht eine Art Marktplatz erreicht hatten. Dann erblickte ich zwischen den Riesen-Leibern hindurch eine Felsnadel, die in der Mitte des Platzes aufragte. Ganz oben gab es eine gewölbte Mulde, groß genug, dass ich dort hätte sitzen können, wenn ich nach oben geklettert wäre.
    Allerdings – und das überraschte mich kaum – hatten die Riesen den Felsen nicht als Aussichtsplatz für zu Besuch kommende Zwerge vorgesehen. Vielmehr war dort ein langer Stab aus Holz befestigt; die metallene Klammer am Ende erweckte den Eindruck, als sei etwas aus ihr herausgerissen worden. Mir fiel ein, was Estrada am Abend vor dem Erreichen von Altapasaeda gesagt hatte. Dies musste der Amtsstab des Stammesoberhaupts sein, und die Klammer hatte den Stein enthalten, bis Moaradrid erschienen war.
    Ich wollte Estrada gerade darauf hinweisen, als sich die Menge vor uns teilte und eine besondere Riesin auf uns zukam. Sie war hagerer als die meisten anderen, ihre Haut runzlig und von Falten durchzogen. Zwar beeilte sie sich, aber sie kam trotzdem nur langsam voran. Die ganze Zeit über murmelte sie vor sich hin, und als sie nahe genug war, warf sie sich Salzleck entgegen, schlang ihm die Arme um die Brust und schluchzte: »Shaltz Lekh! Shaltz Lekh!«
    Es konnte nur seine Mutter sein. Was die alte Riesin da dauernd wiederholte, schien Salzlecks wahrer Name zu sein, den Moaradrids Soldaten falsch verstanden hatten. Diesmal zögerte Salzleck nicht und erwiderte die Umarmung ebenso herzlich. Er klammerte sich regelrecht an der alten Riesin fest, als hinge sein Leben davon ab, und schon nach wenigen Sekunden waren beide Gesichter tränenüberströmt.
    Hierfür hatte er all die Mühen auf sich genommen: für seine Heimat, sein Volk und seine Familie. Plötzliche Trauer schuf einen Kloß in meinem Hals. Mir fehlte das alles, doch in diesem Moment verstand ich ihn völlig.
    Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich holte den Riesen-Stein hervor und hob ihn hoch.
    »Salzleck!«, rief ich. »Du brauchst jetzt das hier.«
    Salzleck sah mich an, zuerst überrascht und dann entsetzt.
    »Ich weiß, ich weiß, du bist nicht gut genug. Nun, ich bin kein Experte für Riesen-Politik, aber du scheinst zumindest beliebt zu sein. Vielleicht kannst du als amtierendes Oberhaupt regieren, bis jemand aufkreuzt, der besser ist.« Ich deutete nach oben. »Wie dem auch sei, der Stab dort bringt sich nicht von selbst in Ordnung.«
    Ich sah, dass er erneut protestieren wollte. Aber die

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