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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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    D ie Sonne ging unter, als sie entschieden, mich zu hängen.
    Gerechterweise muss man sagen, dass sie es mit der Entscheidung nicht sonderlich eilig gehabt hatten. Seit meiner Gefangennahme, bei der ich ordentlich Prügel bezogen hatte, waren sie fast eine Stunde damit beschäftigt gewesen, darüber zu reden. Einer der drei Burschen wollte mich einem Offizier der Berufssoldaten übergeben. Der zweite schien entschlossen, mir die Kehle durchzuschneiden, und er hoffte noch immer, die anderen beiden überreden zu können. Ich hatte beschlossen, mich auf seine Seite zu schlagen. »Er hat recht, wisst ihr. Es ist ein schneller, aber schmerzvoller Tod, und weniger schmutzig, als man glauben könnte.«
    Das brachte mir nur einen besonders heftigen Tritt gegen die Stirn ein, woraufhin ich mich auf ein gelegentliches Nicken oder zustimmendes Brummen beschränkte.
    Man hatte mir oft prophezeit, dass ich früher oder später die falsche Person bestehlen und dafür mit dem Kopf in der Schlinge enden würde. Dann und wann hatte ich geahnt, dass etwas Wahres daran sein könnte, aber die meiste Zeit über hatte ich versucht, einfach nicht daran zu denken. Das Hängen erschien mir als eine unnötig in die Länge gezogene und unangenehme Art und Weise, aus dem Leben zu scheiden, und da Einhaltung und Vollzug des Gesetzes im Castoval eher dem Zufall überlassen blieben, hatte ich mich damit getröstet, dass ich mir über so etwas nur Sorgen machen musste, wenn ich sehr achtlos oder ausgesprochen dämlich gewesen wäre.
    An diesem Tag war ich leider beides gewesen.
    Die Diskussion ging weiter, und ich folgte ihr so gut ich konnte, wich dabei dem einen oder anderen Schlag aus und versuchte heimlich, die Hände freizubekommen. Trotz ihres Getues zweifelte ich kaum daran, dass die Burschen frühere Fischer waren und vermutlich von der Küste bei Aspira Nero stammten. Sie trugen keine Farben und keine Panzerung, abgesehen von Arm- und Kopfschutz aus Leder. Ihre bernsteinfarbene Haut war von der Gischt des Meeres gegerbt, und sie sprachen mit einem schweren Akzent. Hinzu kamen eher derbe Manieren, wie ich am eigenen Leib erfahren musste. Sie brauchten so lange, sich zu einigen, dass ich riskierte, vor Langeweile zu sterben.
    Einer von ihnen – der Größte, das Gesicht über dem wuchernden Bart glänzend und gerötet – drehte sich zu mir um und knurrte: »Hast du gehört? Wir knüpfen dich auf.« Er war derjenige, der sich die ganze Zeit über fürs Hängen ausgesprochen hatte.
    »Es ist meinen Ohren nicht entgangen. Allerdings glaube ich noch immer, dass das mit der durchgeschnittenen Kehle besser wäre. Wahrscheinlich würde ich mich dabei nicht beschmutzen. Aber es ist natürlich eure Sache, wenn ihr unbedingt Zeit vergeuden wollt.«
    »Stimmt«, pflichtete er mir bei und warf seinem Kumpel, der schmollend ein Messer mit Knochengriff befingerte, einen warnenden Blick zu.
    Wenn meine Verurteilung unwiderruflich feststand, konnte es nicht schaden, dem Burschen ganz offen zu sagen, was ich von ihm hielt. »Es wäre wohl auch zu viel gewesen, Finesse von einem so einfältigen und übel riechenden Dummkopf zu erwarten, dessen Mutter vermutlich …«
    Ich hatte noch viel mehr sagen wollen, wurde jedoch in meiner Konzentration gestört, als ein Schlag meinen Kopf mit solcher Wucht traf, dass ich zu Boden ging. Für einen Moment wurde alles schwarz. Dann schmeckte ich Blut, und obwohl das Blut mit Dreck vermischt war, wusste ich doch, dass ich nicht länger auf dem Boden lag. Etwas Raues und Warmes befand sich zwischen meinen Beinen und etwas anderes an meinem Hals, auf unangenehme Weise festgezogen. Das warme Ding identifizierte sich mit einem verärgerten Wiehern. Das andere Objekt erkannte ich ohne Hilfe.
    Ich zog in Erwägung, nicht die Augen zu öffnen, obwohl das kaum etwas zu nützen schien. Dann fiel mir ein, dass ich nicht im Dunkeln sterben wollte. Ein enttäuschender Anblick erwartete mich. Alles war so wie in meiner Erinnerung. Die kurvenreiche Straße erstreckte sich noch immer links von uns, und es herrschte dichter Verkehr auf ihr – viele Leute waren zum Feldlager unterwegs. Der Fischerkarren stand noch immer im Gras, und die alte Buche erhob sich dort, wo sie sich den ganzen Nachmittag erhoben hatte. Allerdings sah ich sie jetzt aus einem anderen Blickwinkel, denn ich hing an einem ihrer Äste. Der Mond stand jetzt klar am Himmel, die Sonne war fast verschwunden. Ich schätzte, dass nur einige Minuten verstrichen

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