Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
Kapitän Westphalen machen.«
Moritz verzog keine Miene, doch innerlich tat sein Herz einen riesigen Hüpfer. Endlich raus aus dem dunklen Kontor! Endlich durfte er in den Hafen zu Kapitän Westphalen. Obwohl er nun schon fast ein Jahr bei Schröder & Westphalen arbeitete, hatte man ihn bis jetzt noch nie dort hingeschickt.
Der Patron packte die Papiere sorgfältig in die Tasche und knotete die Bänder zusammen. Danach hielt er eine Stange Siegellacküber eine Kerze und ließ den geschmolzenen Lack auf die Bänder tropfen. Mit dem Ring, den er vom Finger abgezogen hatte, versiegelte er sie. Schließlich legte er beide Hände auf die Tasche.
»Hier drin sind Konnossemente, Moritz. Das ist der Eigentumsnachweis für die Güter, die verfrachtet werden sollen. Es ist, als würdest du die Waren selbst in der Hand halten. Also sei vorsichtig. Gehe zu Kapitän Westphalen. Auf dem kürzesten Weg und nur durch die breiten Straßen. Keine Abstecher in die Gassen und Höfe. Und keinen Umweg in die Vorstadt St. Pauli. Du darfst die Tasche nie aus der Hand legen. Versprich mir das.«
Moritz wusste von seinem Vater, welch einen ungeheuren Wert ein Konnossement haben konnte, und war sich der Wichtigkeit seiner Aufgabe bewusst. Er wischte seine feuchten Hände an der Hose ab und nickte tapfer.
Die Tasche fest gegen die Rippen gedrückt, eilte er durch die Stadt. Es waren viele Leute unterwegs: Fußgänger, Lastenträger und Karrenschieber. Glücklicherweise sahen sie alle nicht wie Diebe aus. Er lief über die Trostbrücke und steuerte den Hopfenmarkt an. Es war Markttag, und wie immer wimmelte es von Händlern, Käufern und solchen Leuten, die den lieben langen Tag nichts zu tun hatten. Dieses Gewühl war Moritz nicht geheuer. Er wandte sich nach Süden und strebte über die Reimerstwiete dem Binnenhafen zu.
An den Mühren verlangsamte er seinen Schritt und blinzelte in die Sonne. Endlich frei! Auf der Hohen Brücke blieb er eine Zeit lang stehen und blickte auf die Schuten und Ewer hinunter, die festgefroren im Eis vor den Speichern lagen. Mit einem schnellen Sprung saß Moritz auf der breiten Brüstung, legte die Tasche neben sich und blinzelte in die Sonne. Nach den dunklen und kalten Tagen zwängten sich die ersten warmen Sonnenstrahlen durch die Wolken, und es war ihm, als würden sie ihn bis ins Herz hinein wärmen. Trotz der Kälte flog ihn ein Gefühl von Frühling an, er pfiff ein Lied und überlegte, ob er einen Abstecher zum Speicher seines Vaters machen sollte. Doch dort würde ernur im Wege herumstehen. Ja, wenn er Quartiersmannslehrling wäre, würde er eine Funktion im Speicher haben, hochgeachtet und anerkannt, wie es ihm jetzt schien.
Er kletterte von der Brüstung hinunter und schlenderte, tief in Gedanken versunken, weiter. An den Kajen angekommen, stutzte er: Irgendetwas stimmte nicht, etwas war anders als zuvor. Plötzlich überfiel ihn die lodernde Flamme der Erkenntnis. Es drückte ihm nichts gegen die Rippen, er hatte die Tasche nicht mehr bei sich! Einen Augenblick lang war er starr vor Schreck, dann hetzte er mit Riesenschritten zurück. Vor Anstrengung keuchend kam er bei der Hohen Brücke an. Oben auf der Brüstung, mitten im hellsten Sonnenschein, lag die Tasche. Moritz riss sie an sich, prüfte das Siegel, es war nicht erbrochen. Erleichtert stieß er die Luft aus, die er wohl die ganze Zeit angehalten hatte. Mit zitternden Händen drückte er die Tasche gegen die Brust und rannte in Richtung Baumhaus.
Das Kontor des Kapitäns lag am Steinhöft, mit Blick auf den Binnenhafen. Moritz drängte atemlos durch die Tür, die Tasche immer noch an die Rippen gepresst. Erstaunt blieb er stehen und schaute sich um. Durch eine niedrige Absperrung wurde der große Raum in zwei ungleiche Hälften geteilt. Die kleinere, fast leere Hälfte war der Eingangsbereich, in der größeren gab es einen Schrank, einen Stuhl, einen Tisch und einen hohen Lehnstuhl, der aus einem einzigen Baumstamm gearbeitet zu sein schien. In diesem Lehnstuhl saß Kapitän Westphalen.
»Komm auf diese Seite«, befahl der Klabautermann. »Aber sei vorsichtig mit der Pforte. Sie ist nicht mehr ganz in Ordnung.«
Moritz öffnete die niedrige Tür. Sie knarrte und wackelte erbärmlich. Mit einem kurzen Blick stellte er fest, dass sich ein Scharnier gelöst hatte.
»Ich sollte sie endlich reparieren lassen«, sagte Kapitän Westphalen nachdenklich.
Während er das Siegel prüfte und die Konnossemente der Tasche entnahm, schaute
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