Wie ein Stein im Geroell
M an sah gleich, daß wir bei uns daheim viele waren. Und eine schien man entbehren zu können. Ich war die fünfte von sechs Geschwistern, und auf die Welt bin ich gekommen, wie die Mutter sagte, weil Gott es so gewollt hat, und was Er einem gibt, muß man annehmen. Maria, das war die Älteste, kümmerte sich schon mehr um den Haushalt als die Mutter selbst, Josep, der Erstgeborene, würde einmal alles erben, und Joan ging aufs Priesterseminar. Von uns drei anderen, den Kleinen, habe ich oftmals sagen hören, wir würden mehr Arbeit als Freude machen. Rosige Zeiten waren das nicht. Es gab so viele Münder zu stopfen, und wir hatten so wenig, natürlich reichte es da nie. Aus diesem Grund wurde beschlossen, daß ich, die ich einen folgsamen Charakter hatte und schon sehr vernünftig war, von zu Hause fort sollte, um der Tante zu helfen, Mutters Schwester, die bereits die Hoffnung aufgegeben hatte, eigene Kinder zu bekommen. An Arbeit aber mangelte es ihr nicht. Sie war mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet, der Land besaß, mindestens ein halbes Dutzend Kühe, dazu Geflügel und Kaninchen und sogar einen Gemüsegarten. Es fehlte ihnen an nichts, aber sie fühlten, daß sie langsam älter wurden, und sie hatten niemanden, der ihnen zur Hand ging und Gesellschaft leistete. So verließ ich mit dreizehn Jahren, ein Bündel unter dem Arm, Maria auf der einen und den Vater auf der anderen Seite, Familie, Elternhaus, Dorf und Berge. Von Ermita bis Pallarès sind es nur ein paar Kilometer, doch zu Fuß brauchte man dafür einen ganzen Tag, und das bedeutete, ich verlor mein Zuhause. Ich kehrte ihm den Rücken zu, und in diesem Augenblick, auf dem Weg hinunter, tat das mehr weh als alles andere, denn die einzige Welt, die ich bis dahin gekannt hatte, einfach alles, blieb hinter mir zurück.
Auf dem stundenlangen, schweigsamen Fußmarsch zum Markt von Monsent, wo Vater und Maria die Einkäufe erledigen und mich Onkel und Tante übergeben sollten, fielen mir bloß die schönen Dinge ein, die ich in meinem Dorf erlebt hatte. Verlassen hatte ich es nur, um das Vieh auf die Gebirgsweiden zu treiben oder um mich heimlich zum Patronatsfest zu schleichen, ins Nachbardorf, das gerade mal aus vier Häusern bestand. So viele Menschen, und die Erde gab so wenig her.
Ich erinnere mich noch gut an die drei Winter, die ich zur Schule gegangen bin. Ich war wohl eines der wenigen Mädchen, die etwas hatten lernen dürfen, denn daheim gab es ja schon größere Kinder, die zur Arbeit taugten. Was für ein Glück, zu den Kleinen zu gehören! Die Lehrerin brachte uns diese merkwürdig geschwungene Schönschrift bei, wo das Ende eines jeden Buchstabens nach oben zeigte und das r links einen Buckel hatte, so daß ich immer an einen Korkenzieher denken mußte. In der Schule war es schön warm, denn obwohl Fräulein Paquita wußte, daß es bei uns allen zu Hause recht knapp zuging, verlangte sie jede Woche einen ordentlichen Vorrat an Brennholz, um den Klassenraum zu heizen. Das ABC könne man sich schließlich nur einprägen, wenn man es auch ein bißchen warm habe, und wenn unsere Eltern wollten, daß wir etwas lernten, müßten sie «ihren guten Willen schon unter Beweis stellen», wie sie auf Spanisch sagte. Auf Spanisch habe ich auch das Wenige gelernt, das ich weiß, selbst wenn ich später fast alles wieder vergessen habe. Die ersten Tage konnte ich es gar nicht fassen, daß das Fräulein Lehrerin, von der niemand so genau wußte, woher sie eigentlich kam, sich nicht verständlich machen konnte, wenn sie mit uns sprach. Schließlich haben wir sie aber doch verstanden, und auch sie konnte uns folgen, wenn wir etwas sagten. Ich weiß nur nicht, warum sie so tat, als ob sie sich schämen würde oder ihr das Ganze nicht recht sei. An diese Winter in der Schule erinnere ich mich, als wäre es erst gestern gewesen. Magdalena und ich setzten uns immer nebeneinander, und wenn wir etwas vorlesen sollten, mußte ich vor Lachen losprusten, und Magdalena hörte auf zu lesen. Dann schob sich Fräulein Paquita ihre Brille auf die Nase und schaute uns an, wie ein Feldwebel so streng, und ich bekam dann diese Bauchschmerzen, weil ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen, und Magdalena las weiter, und ich merkte, wie mir etwas Pipi in den Schlüpfer lief.
Ich bin gerne zur Schule gegangen. Das war etwas Besonderes und gab mir das Gefühl, daß es auch etwas Gutes hatte, ein Kind zu sein. Daheim schien man immer zu stören. Wenn wir in der Scheune
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